Slide - Durch die Augen eines Mörders
dem Homecoming ging mein Vater mit Mattie und mir ins Einkaufszentrum, um ein Kleid auszusuchen. Er drückte mir einige Geldscheine in die Hand und ging in ein Restaurant. Mattie drehte Pirouetten und hüpfte neben mir her, aber ich fand das alles gar nicht lustig. Es war ein Krieg.
Ich wollte ein hinreißendes Kleid, damit jeder sehen konnte, wie wenig ich auf die Gerüchte und blöden Streiche gab. Die Jungs würden vor mir in die Knie gehen und die Mädchen wieder zur Vernunft kommen. Es musste Kleid und Rüstung zugleich sein.
Am Ende des Einkaufszentrums, gleich neben dem Brezelstand, fanden wir einen Laden namens
Tonight, Tonight
. Das Kleid sprang mich schon im Schaufenster an – ein dunkles Lila, seidig und glitzernd. Es erinnerte mich an den Bach im Wald hinter unserem Haus, an Wasser, das über Steine fließt und im Mondlicht schimmert. Als ich es anzog, fühlte ich mich so stark wie noch nie. Ich fühlte mich wie jemand anders, älter und klüger, wie eine Frau, die wusste, was sie vom Leben erwartet. Es war vorn gefährlich weit ausgeschnitten und ließ meine kaum vorhandenen Brüste sehen, doch die Verkäuferin holte diese komischen Schalen und stopfte sie in meinen BH . Schon sah mein Dekolleté ganz anders aus.
Zu Hause probierte ich das Kleid an und stolzierte wie eine Prinzessin die Treppe hinunter. Ich merkte, dass mein Vater nicht allzu begeistert von dem Kleid und den Polstern war, doch er sagte: »Ich nehme an, dass du alt genug bist, um deine Kleider allein auszusuchen« und »Du gehst nur einmal zum ersten Schulball« und »Darin siehst du aus wie deine Mutter«. Dann ging er in sein Arbeitszimmer.
Ein Typ aus der Footballmannschaft, der ein Ziegenbärtchen trug, fuhr uns zum Ball, doch zuerst gab es einen Joint im Kapler Park. Ich sagte nein, nahm aber ein paar Schlucke aus der Flasche Cutty Sark, die Scott aus dem Barschrank seiner Eltern geklaut hatte. Der Alkohol hatte die gleiche Wirkung wie das Kleid – ich fühlte mich warm, erwachsen und frei. Uns allen war schwindlig, als wir übermütig zum Ball fuhren. Mir kam der Gedanke, dass der Typ mit dem Bart lieber nicht mehr fahren sollte, doch es kam mir vor, als könnte uns nichts Schlimmes passieren. Außerdem wollte ich nicht wie ein Feigling dastehen.
»Tanz mit mir«, flüsterte Scott mir ins Ohr. Ich ließ mich auf die Tanzfläche führen, und es war, als machten alle Platz für uns, genau wie im Film. Ein langsames Stück wurde gespielt, und ich lehnte mich an ihn und schloss die Augen. Er roch nach Pot und Orangenshampoo. Perfekt. Doch dann überkam mich ein vertrautes Gefühl – gleich würde ich wandern –, und ich murmelte, ich müsste mich hinsetzen.
»Willst du dich allein irgendwo hinsetzen?«
Ich nickte und rieb mir die Augen. Ich konnte kaum aufrecht stehen. Als Scott mich endlich in die Ecke der Turnhalle manövriert hatte, gleich neben der Tür zu den Umkleidekabinen, war ich schon in jemand anderen gewandert.
Es war ein seltsames Gefühl. Ich hatte meinen Körper verlassen, war aber immer noch in der Turnhalle. Nur meine Perspektive hatte sich verändert. Die Person, in die ich gewandert war, stand neben der Bowle und trank eine süße Flüssigkeit aus einem Pappbecher. Ihr wunderschöner rosa Ring blitzte im Licht der Discoscheinwerfer. Da erkannte ich, in wen ich gewandert war. Ich trug die silbernen Pumps von Samantha, die ich mir lange vor unserem Streit einmal ausgeliehen hatte und in denen sie sich angeblich wie Cinderella vorkam.
Meine ehemalige beste Freundin schaute zu, wie Scott meinen Körper in die Jungenumkleide schleppte.
Meine schlimmste Angst wurde wahr. Wenn man seinen Körper verlässt, wird er verletzlich. Vielleicht wollte Scott mich nur irgendwo hinbringen und warten, bis ich aufwachte. Warum aber setzte er mich nicht auf einen der Klappstühle, die am Rand der Turnhalle aufgestellt waren? Oder, besser noch, warum holte er nicht einfach einen Erwachsenen zu Hilfe?
Ich ahnte den Grund, wollte ihn aber nicht wahrhaben. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was mit meinem Körper geschah, wenn ich ihn nicht beschützen konnte. Ich wünschte mir verzweifelt, ich könnte Samantha dazu zwingen, uns zu folgen, ihm eine aufs Maul zu hauen oder einfach um Hilfe zu rufen. Aber ich war machtlos.
Kurz darauf sah ich einen Jungen mit langem braunem Haar und Lippenpiercing in die Umkleide schlüpfen. Ich kannte ihn aus dem Spanischunterricht – ein Neuer namens Archie Rollins. Samantha und ich
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