Slide - Durch die Augen eines Mörders
hatten laut gelacht, als Señora Gomez seine Namen vorlas. Wer bitte nannte seinen Sohn Archie?
Meine Panik wuchs. Ich erinnerte mich an ein Buch über ein Mädchen, das auf einer Party missbraucht worden war. Irgendein Typ hatte Nacktfotos von ihr gemacht und ins Internet gesetzt. Alle konnten sie sehen – ihre Eltern eingeschlossen.
Komm schon, Samantha
, dachte ich,
ich weiß, wir haben Streit, aber wie kannst du einfach tatenlos zusehen? Wie?
Da kehrte ich zurück.
Ich erwachte von Kampfgeräuschen. Mein Körper lag auf einer unbequemen Holzbank in der Jungenumkleide, mein Kleid war bis zur Taille hochgeschoben. Zwei Gestalten kämpften miteinander, und als mein Blick klarer wurde, erkannte ich Scott und diesen Archie.
Archie verpasste ihm einen harten Schlag genau unters Kinn. Scotts Arme drehten sich wie Windmühlenflügel, er wollte sich festhalten, griff aber in die Luft. Er prallte hart auf den Rücken und stöhnte. Er sah aus, als würde er vorerst nicht wieder aufstehen.
Archie drehte sich zu mir und streckte die Hand aus. »Komm«, knurrte er, »ich bringe dich hier raus.« Ich ließ mich von ihm aus der Umkleide führen, die Treppe hinauf und in den kühlen Abend. Er packte mich in sein Auto, und ich ließ es zu, weil ich nur daran denken konnte, dass ich eine Dusche brauchte.
Am Montagmorgen hörte ich, wie eine Cheerleaderin einer anderen Zehntklässlerin zuflüsterte, ich hätte Scott in der Jungenumkleide einen geblasen. »Woher weißt du das?«, fragte die Zehntklässlerin. »Von Samantha, also muss es stimmen. Und danach hat Scott zu viel Whisky getrunken und auf die Tanzfläche gekotzt.« Sie kicherten.
Seit diesem Abend, dem Abend, an dem er mich vergewaltigen wollte, trägt er den Spitznamen Scotch. Ich könnte jedes Mal kotzen, wenn ich ihn höre.
Nach dem Spanischunterricht stellte ich Samantha zur Rede. »Du hast es gesehen. Du hast gesehen, wie Scott mich in die Umkleide geschleppt hat, aber du bist einfach stehengeblieben und hast deine Bowle getrunken und
nichts
unternommen.« Meine Stimme zitterte, und ich war den Tränen nahe, gönnte ihr aber nicht die Genugtuung. Samantha stand da, ihren Ordner an die Brust gepresst, die Lippen fest aufeinander. In ihren Augen las ich eine Mischung aus Wut, Bedauern und
Angst
. Sie fragte sich, wie ich das alles hatte sehen können, während ich ohnmächtig war. Sie hatte
Angst vor mir
, vor dem, was ich wusste, und weil ich es wusste. Sie drehte sich um und lief weg.
An diesem Tag saß sie in der Mittagspause bei Scotch auf dem Schoß. Alle an ihrem Tisch folgten mir mit den Augen, als ich mir einen Teller holte und ihn mit Blattspinat, Croutons und Dressing füllte. Ich setzte mich an einen freien Tisch am Fenster. Worauf sich Archie – also Rollins – einfach mir gegenüber niederließ. Er hatte eine Tüte Doritos und eine Dose Mountain Dew dabei. Er schaute mich gelassen an, als äßen wir jeden Tag zusammen.
»Alles klar?« Seitdem sind wir die besten Freunde.
Ich habe nie jemandem erzählt, was an diesem Abend geschehen war. Vielleicht hätte ich es tun sollen.
Vermutlich
hätte ich es tun sollen. Aber ich tat es nicht, und wann immer ich daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut. Es ist einfacher, so zu tun, als wäre es nie geschehen. Das Problem ist nur … dass es geschehen ist. Und ich es jeden Tag meines Lebens mit mir herumtrage.
Ich ziehe mich nicht einmal aus, sondern lege mich einfach aufs Bett, gehe das Gespräch mit Rollins wieder und wieder durch und wünsche mir, es wäre anders verlaufen. Wenn ich ihm nun die Wahrheit gesagt hätte? Wenn er mir
geglaubt
hätte? Habe ich seine Freundschaft nicht verdient, weil ich ihm gegenüber nicht ehrlich bin?
Ich seufze und drehe mich auf die linke Seite. Das Licht der Straßenlaterne fällt auf das Plakat von
Uhrwerk Orange
. Ich lasse mich auf ein Wettstarren ein, aber es hat keinen Sinn. Der Augapfel mit den dichten schwarzen Wimpern gewinnt immer. Ich hieve mich aus dem Bett und gehe ans Fenster. Dort wartet das alte Teleskop meiner Mutter auf mich.
Sie hat die Sterne geliebt. Obwohl ihr Hauptfach Englische Literatur war, belegte sie so viele Astronomiekurse, wie es ging. Das hat mir mein Vater erzählt. Obwohl vieles an ihr inzwischen so ungreifbar erscheint – ihr Geruch, die Worte, die sie mir zuflüsterte, bevor ich abends einschlief –, erscheint mir der Himmel
real
. Ich kann durch ihr Teleskop schauen und genau das sehen, was sie gesehen hat. Dann bin ich
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