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Slide - Durch die Augen eines Mörders

Slide - Durch die Augen eines Mörders

Titel: Slide - Durch die Augen eines Mörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jill Hathaway
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lehnt den Kopf an die Wand. Ein Stück darüber hängt ein Familienfoto in einem silbernen Rahmen. Darauf sind Mattie und ich – eingefroren in der Zeit – sie mit neun, ich mit elf. Zwischen uns grinst Mickymaus, aber wir beide bringen kein Lächeln zustande. Unsere Mutter ist einen Monat zuvor gestorben. Als mein Vater mitten in der schlimmsten Trauer steckte, schickte er uns mit seinen Eltern nach Disney World. Warum er sich das Bild, das von einer zerbrochenen Familie zeugt, an die Wand gehängt hat, ist mir unbegreiflich. Vielleicht wollte er sich beweisen, dass das Leben weitergeht, selbst wenn seine Frau gestorben ist, selbst wenn seine Kinder ihre Mutter verloren haben.
    Meine linke Hand schwebt knapp über der Schulter meiner Schwester. Mir ist danach, ihr den Rücken zu streicheln, wie es Sophies Mutter getan hat, aber ich kann mich nicht dazu überwinden. Etwas an dieser Geste wäre falsch. Den Trost, den sie jetzt braucht, kann ich ihr nicht bieten. Um etwas zu geben, muss man es in sich haben. Und im Augenblick bin ich innerlich völlig leer.
    Ich sehe nur das Bild von Sophies Leiche. Mehr kann ich nicht sehen. Mehr bin ich nicht.
    Den ganzen Tag über habe ich immer wieder zum Handy gegriffen, um die Polizei anzurufen. Aber ich habe es nicht geschafft. Ich weiß nicht, was ich hätte sagen sollen. Wie ich es erklären könnte.
    Ich will gerade in die Küche gehen, um etwas zum Essen in die Mikrowelle zu schieben, als die Tür aufgeht. Mein Vater steht auf der Schwelle, einen Matchbeutel über der Schulter, dunkle Ringe unter den Augen.
    »Daddy!« Mattie rennt auf ihn zu und umschlingt seinen schmalen Körper. Er nimmt sie in die Arme, wirkt aber seltsam steif.
    Sein Blick wandert zu mir. »Es tut mir so leid, Mädchen. Aber im Krankenhaus stand es auf der Kippe. Wir dachten, eines der Babys könnte eine Thrombose haben. Es ging um Leben und Tod.«
    »Ich sehe mal nach, was wir im Gefrierschrank haben«, verkünde ich und stehe auf. Ich schäme mich für meine Gefühle. Ich bin gekränkt, weil kranke Babys wichtiger sind als wir, sein eigenes Fleisch und Blut.
    »Nein, Vee, wir brauchen etwas Richtiges zu essen. Ich kümmere mich darum.« Er löst sich sanft von Mattie.
    »Das ist lächerlich, Dad. Du bist erschöpft. Ich mache uns eine Pizza.«
    Er tut meine Sorge ab und zieht Mattie an der Hand ins gelbe Licht der Küche. »Mir geht es gut.«
    Ich folge ihnen, weil ich fürchte, mein Vater könnte im Stehen einschlafen. Mattie setzt sich auf einen Hocker an der Esstheke, ich nehme den anderen. Gemeinsam schauen wir zu, wie mein Vater den Ofen einschaltet und Sachen aus dem Kühlschrank nimmt: Eier, Butter, eine Aubergine.
    Ihm beim Kochen zuzusehen, beruhigt mich mehr als alle Worte. Er schneidet mit der Präzision des Fachmanns durch das violette Gemüse und verarbeitet es zu dünnen, gleichmäßigen Scheiben. Jedes Ei knackt befriedigend, wenn er es aufschlägt. Jede Auberginenscheibe wird in die Eiermischung getaucht, planiert und sorgfältig in eine Form gelegt. Dann streut er geriebenen Käse darüber und schiebt die Form vorsichtig in den Ofen.
    Das Rezept für die berühmten Auberginen mit Parmesan meiner Mutter steht in einem leuchtend orangen Rezeptbuch, doch er hat es so oft gekocht, dass er es auswendig kann.
    Das Rezeptbuch, das meine Mutter von Hand geschrieben hat, hat ihn durch die Jahre begleitet. Ein Rezept für jeden Kratzer, jede Enttäuschung, jedes Herzweh. Auf diese Weise ruft er meine Mutter zu Hilfe, wenn er mit seinem Latein am Ende ist.
    Er dreht sich um und schaut seine beiden Mädchen an. Erst da bemerke ich seine Tränen.
     
    Beim Abendessen sitzt mein Vater wie immer am Kopf des Tisches. Mattie senkt den Kopf und faltet die Hände, während er das Gebet spricht. Ich spiele mit meiner Serviette.
    »Segne uns, o Herr …«
    Ich bemerke, wie Mattie das goldene Kreuz meiner Mutter berührt, das sie an einer Kette um den Hals trägt und nur einmal ausgezogen hat, als sie eine längere Kette brauchte. Sie spricht die Worte des Gebetes lautlos mit. Wie kann sie an einen Gott glauben, der uns die Mutter nimmt und zulässt, dass ein junges Mädchen wie Sophie abgeschlachtet wird?
    »… und diese deine Gaben, die wir aus deiner Fülle haben, durch Christus unseren Herrn, Amen.«
    »Amen«, murmelt Mattie.
    Ich seufze laut.
    »So.« Mein Vater räuspert sich und greift nach der Schüssel mit grünen Bohnen, die er noch als Beilage zum Auflauf gekocht hat. »Ich habe mit

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