Slide - Durch die Augen eines Mörders
aber Mom wollte wieder zurück. Sei nicht sauer, aber ich bin kein großer Fan von Iowa.« Er lächelt entschuldigend. Seine Zähne sind so weiß. An seinem Kinn wachsen hellblonde Stoppeln. Ich würde sie gern an meiner Wange und meinen Lippen spüren. Durch die Nähe zu ihm hat sich mein Blickwinkel verengt, ich sehe nur noch sein Gesicht.
»Da bist du nicht der Einzige.«
Zane greift nach einem Foto von meiner Schwester, meinem Dad und mir.
»Was macht dein Vater?«
»Er ist Kinderchirurg. Heute operiert er ein Kind, das mit dem Darm außerhalb des Körpers geboren wurde.«
Er schüttelt den Kopf. »Ganz schön beeindruckend. Ich meine, der Job deines Vaters, nicht das arme Baby.«
»Ich weiß«, sage ich und kann die Bitterkeit in meiner Stimme nicht ganz verbergen.
»Was ist mit deiner Mom?« Wir beide schauen auf das Foto und die Lücke, in der meine Mutter sein sollte. Ich bin ein bisschen überrascht, dass er so offen danach fragt, wo doch klar ist, dass meine Mutter entweder tot oder woanders sein muss. Dass sie jedenfalls nicht mehr zu meinem Leben gehört. Dann fällt mir ein, dass er schon am ersten Tag gesagt hat, dass sein Vater gestorben sei. Es scheint für ihn eine ganz natürliche Frage zu sein.
»Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich war elf, als sie starb.«
Er nickt, als hätte ich seine Vermutung bestätigt. »Das ist schlimm für ein Kind.«
Ich schaue in meine Kaffeetasse. »Es war schlimm. Ich meine, das ist es immer noch. Es ist auch nicht gerade hilfreich, dass mein Vater ständig unterwegs ist. Ich bin quasi die Mutter meiner Schwester geworden. Er hat sich nicht mal um sie gekümmert, als wir von Sophies Tod erfahren haben.«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagt er mitfühlend. »Meine Mom ist seit Jahren nicht mehr sie selbst. Seit mein Vater gestorben ist, lebt sie in ihrer eigenen Welt.«
»Wie alt warst du, als er gestorben ist?«
»Er hat sich das Leben genommen, als ich drei war.« Sein nüchterner Ton bringt mich zum Schweigen.
»Es ist schon in Ordnung«, sagt er, als gäbe es keine passende Reaktion auf diese Tatsache. »Ich kann mich gar nicht richtig an ihn erinnern. Ich war noch zu klein. Ich habe aber ein Foto von uns beiden. Da hat er mich auf der Schaukel angeschubst. Und er lächelt ganz breit, aber in seinen Augen sieht man, dass er nicht glücklich ist. Er hat es ungefähr einen Monat, nachdem das Foto gemacht wurde, getan.«
O Gott. Ich wünschte, ich könnte dieses Gespräch rückgängig machen und auf die verträumte, zarte Wolke zurückkehren, über der ich eben noch geschwebt bin.
Meine Schüchternheit ist verschwunden, die Enthüllungen haben sie vertrieben. Ich greife nach seiner Hand, unsere Finger verschränken sich. Er drückt zu.
Er stellt die Tasse ab und schaut mich an. Trotz des Kaffees riecht sein Atem süß, aber etwas schwingt darin mit – etwas wie Kummer. Er drückt seine Lippen auf meinen Mund.
Das ist das Besondere an diesem Kuss – er ist erfüllt von allem, das ich so lange vermisst habe. Verbundenheit. Verständnis. Wärme. Und das alles rauscht so schnell durch meinen Körper, dass ich glaube zu ertrinken. Ich kann nicht atmen. Gedankenlos schiebe ich ihn weg. Sehe den Schmerz in seinen Augen.
Ich bereue es sofort und will mich entschuldigen, aber er steht schon auf.
»Ich muss los.«
Er ist weg, bevor ich widersprechen kann. Ich falle auf der Couch in mich zusammen, keuche, begreife, dass ich noch nie im Leben etwas so sehr gewollt habe, wie die Zeit zurückzudrehen und zu diesem Kuss zurückzukehren. Und das macht mir Angst. Die Tatsache, dass sich etwas so Schönes und Zartes in meiner Reichweite befindet, erschreckt mich, denn ich weiß, dass ich es irgendwann wieder verlieren werde.
Stunden später zappe ich durch die Kanäle und suche etwas, das interessant genug ist, um mich wachzuhalten, bis Mattie nach Hause kommt. Eigentlich müsste ich nach oben gehen und meine Koffeintabletten holen, aber ich bin wie festgeklebt auf der Couch. Es erfordert so viel Energie, die Treppe hinaufzugehen. Also sitze ich nur hier, sehe fern und warte.
Hoarders?
Nein.
Full House?
Nein.
The Real World?
NEIN .
Ich entscheide mich für den
Science Channel
. Dort läuft gerade eine Sendung über den bevorstehenden Weltuntergang, was mich irgendwie aufheitert, weil ich dann wenigstens nicht von Sophies Mörder in Stücke geschnitten werde. Der Sprecher hat eine derart beruhigende Stimme, dass ich schließlich dem Schlafdrang nachgebe,
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