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Slide - Durch die Augen eines Mörders

Slide - Durch die Augen eines Mörders

Titel: Slide - Durch die Augen eines Mörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jill Hathaway
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zu, bereit für den Tag. Sonst hockt sie nur vor dem Computer und spielt Solitär.
    Sie ist wegen irgendetwas aufgeregt. Sie krächzt und wedelt mit ihren wabbeligen Armen, während sie uns die Aufgabe erklärt. Sie ist der Ansicht, dass wir nach unserem herzzerreißenden Verlust der Heilung bedürfen. Wir müssen über unsere Gefühle sprechen, alles herauslassen, irgend so einen Psychoscheiß. Das wird anonym passieren. Sie teilt uns grüne Blätter aus, auf denen jeweils oben ein Codewort angegeben ist. Meins lautet
gelb
. Ich riskiere einen Blick auf die Blätter meiner Nachbarn.
Violett. Schwarz.
    Mrs Winger steigert sich richtig in die Sache hinein und erzählt, wie wichtig es doch sei, dass wir uns ausdrücken. Sie möchte, dass wir aufschreiben, wie wir uns in dieser Minute fühlen. Wir sollen unser Selbst auf die Seite ergießen. Mike Jones hebt die Hand und fragt, ob »müde« auch als Gefühl durchgehe. Sie bedenkt ihn mit ihrem Todesblick und setzt den lächerlichen Monolog fort.
    Nachdem wir uns von unseren Gedanken und Gefühlen gereinigt haben, wird Mrs Winger die Blätter einsammeln und mischen. Dann wird sie sie willkürlich austeilen, und wir werden jeder einen von Herzen kommenden, freundlichen und menschlichen Kommentar darunter schreiben. Sie habe die Codewörter, warnt sie uns, damit wir gar nicht erst auf die Idee kommen, etwas Gemeines zu schreiben. Sie hockt sich neben das Pult von Zane und sagt, er sei ja neu in der Schule und habe Sophie gar nicht gekannt. Deshalb könne er schreiben, was immer ihm in den Sinn komme.
    Sie legt klassische »Inspirationsmusik« auf und setzt sich an ihren Tisch. Sie schaltet den Computer ein – das Solitär wartet schon – und legt die Füße hoch. Wir schauen alle eine Weile still auf unsere Blätter. Dann beugen sich meine Klassenkameraden nacheinander vor und beginnen zu schreiben. Zane schreibt ein Wort, hält inne, schreibt noch eins. Samantha hängt über ihrem Pult und kritzelt wie eine Wilde.
    Ich beginne als Letzte. Der Stift fühlt sich seltsam an, hart und schmerzhaft. Dann erst merke ich, wie fest ich ihn umklammert halte. Was habe ich über Sophie zu sagen? Was fühle ich?
    Sophie war einer der nettesten Menschen, die ich kenne.
    Ich halte inne.
Nett
ist zu wenig. So etwas sagst du, wenn ein Fremder fragt, wie dein Wochenende war und du eigentlich nicht darüber reden willst. Das Wetter ist
nett
. Es besagt nichts. Gar nichts.
    Was habe ich wirklich über Sophie zu sagen?
    Ich kaue auf meinem Radiergummi. Immerhin ist es anonym. Also drehe ich den Stift um und radiere den Satz aus.
    Sophie war ein wunderschöner Mensch, von innen und außen, aber alle haben sie wie Dreck behandelt. Die Mädchen, die sie für ihre Freundinnen hielt, haben sie erst akzeptiert, als sie dünn geworden war. Der Typ, den sie mochte, hat sie einfach nur gebumst. Es steckt mehr hinter Sophies Tod, als ihr je erfahren werdet.
    Bevor ich noch mehr schreiben kann, tritt Mrs Winger vor die Klasse und verkündet: »Die Zeit ist vorbei! Blätter falten und abgeben!« Ich falte mein Blatt säuberlich auf die Hälfte und reiche es nach vorn. Nachdem Mrs Winger alle eingesammelt hat, mischt sie sie und teilt sie wieder aus.
    Sie legt ein Blatt auf meinen Tisch. Ich fasse es nicht an.
    Als sie fertig ist, gibt sie uns ein Zeichen, dass wir die Blätter entfalten sollen. »Lesen und antworten«, sagt sie. »Miteinander Verbindung aufnehmen.«
    Lehrer sind so dämlich. Sie glauben, wir würden durch irgendwelche blöden Aktivitäten in der Klasse unsere Seele entblößen. Wenn ein Supersportler nicht mal bereit ist, einen Computerfreak im Flur zu grüßen, wie soll uns dann eine einzige Unterrichtsstunde zu besten Freunden machen, so wie bei den Jugendlichen in
Der Frühstücksclub
? Ich verdrehe die Augen und entfalte mein Blatt.
    Da gibt es ein Mädchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie mag. Ich meine, ich weiß es, aber ich habe keine Ahnung, wie ich es ihr sagen soll. Ich weiß nicht, welche Regeln es dafür gibt. Also. Das wäre alles. Wenn du einen Rat weißt, würde ich mich sehr freuen.
    Ich werfe einen Blick auf Zane. Das muss von ihm sein. Niemand sonst durfte über ein beliebiges Thema schreiben. Bin ich eitel, wenn ich glaube, dass ich damit gemeint bin? Ich erinnere mich, wie sich seine Lippen auf meinen angefühlt haben, so warm und unerwartet. Ich wünschte, ich könnte in jenen Augenblick zurückkehren und ihn genießen, ohne ihn zu

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