Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
unterhielt mich einmal mit einer Freundin, die bereits mehrmals in Rom gewesen war. Kurz vor ihrem nächsten Trip sagte sie bei einem Glas Wein etwas sehr Interessantes: »Ich freue mich schon sehr darauf, denn ich bin schon so oft in Rom gewesen und habe alles gesehen, was man sehen muss, also kann ich jetzt einfach machen, was ich will. Diesmal bin ich nicht unter Druck, irgendetwas tun zu müssen.« Heureka!
Ich würde Ihnen raten, in den Buchladen zurückzugehen und sich einmal anzusehen, wie diese gut gemeinten Reiseführer Ihren Trip bereits entmystifizieren und entpersonalisieren, bevor Sie überhaupt darüber nachdenken konnten, was Sie unternehmen wollen. Das liegt schon in der Natur der Sache. Wenn man das Wort »Führer« im Wörterbuch nachschlägt, steht dort: »Jemand, der einem den Weg zeigt« oder »Jemand, der eine Reisegruppe leitet«. Mal ehrlich, wenn Sie nicht gerade dabei sind, den Amazonas entlangzuwandern oder die Eigernordwand zu besteigen, wollen Siedann wirklich geführt oder geleitet werden? Indem Sie einen Reiseführer benutzen, bekennen Sie von vornherein, dass Sie diese Hilfe brauchen, und machen sich selbst zu einem unsicheren Reisenden. Es gibt jedoch gar keinen Grund, unsicher zu sein: Überall, wo ich gewesen bin, gab es lauter nette, freundliche Menschen, die mir nur zu gerne geholfen haben, wenn es nötig war.
Reiseführer sind allerdings nicht immer so gewesen wie heute. 1829 brachte Karl Baedeker seinen ersten Reiseführer heraus – über den Rhein –, und die Baedeker-Reihe wurde zum Maßstab, an dem alle späteren Reiseführer scheitern mussten. Als die Eisenbahn die Welt erobert hatte, übernahm Karls Sohn Fritz die Leitung und brachte erstmals eine Reihe von Autoreiseführern heraus, kurz nachdem Karl Benz sein erstes Auto gebaut hatte. Baedeker führte das Sternesystem für die Bewertung von Hotels ein, doch es waren die Liebe zum Detail und das enzyklopädische Wissen, die seine Bücher in weiten Kreisen so beliebt machten.
Ein Exemplar des Baedeker-Reiseführers Großbritannien von 1901 kostet heute nahezu 100 Pfund, Sie können ihn aber auch auf openlibrary.org umsonst lesen. Was mir an diesen Reiseführern gefällt, ist, dass sie am Reisen orientiert sind, anstatt einfach davon auszugehen, dass man an einen Ort fährt und dort bleibt. Außerdem setzen sie voraus, dass man sich ein Gefühl von Freiheit erhält, indem man nur wenig Gepäck mitnimmt und, besonders wichtig, nicht in Eile ist. Im Abschnitt »Reiseplanung« verkündet der Großbritannien-Baedeker: »Als Fußgänger reist man fraglos am unabhängigsten«, bevor einem nahegelegt wird, welche Kleidung man mitnehmen sollte:
Einige Flanellhemden, ein Paar Kammgarnsocken, Pantoffeln, Toilettenartikel, ein leichterRegenmantel und ein robuster Regenschirm reichen in der Regel aus. …
Schwere und aufwendige Rucksäcke sollte man vermeiden; ein leichter Beutel oder eine Jagdtasche sind weniger belastend und lassen sich bequemer in unterschiedlichen Positionen tragen.
Ich werde mir sofort ein Paar Kammgarnsocken zulegen.
Die einzelnen Kapitel des Baedeker handeln davon, wie man von einem Ort zum andern gelangt – mit praktischen Anleitungen und heimatkundlichen Hinweisen, welche Bauten und Orte man unterwegs besichtigen kann. Man muss nicht unbedingt die beschriebenen Routen benutzen, weil der Führer so strukturiert ist, dass man ihn sowohl als Nachschlagewerk als auch als Lesebuch benutzen kann. Von den wichtigsten Sehenswürdigkeiten gibt es detailliertere Karten, doch der herablassende Tenor, der nahelegt, dass der ganze Trip reine Zeitverschwendung ist, wenn man sie auslässt, fehlt völlig. Es ist ein Führer für Reisende, nicht für Touristen.
Das Kapitel »Von Liverpool nach London« enthält beispielsweise vier mögliche Routen. Nur eine von ihnen enthält praktische Informationen über Crewe, Rugby, Uttoxeter, Macclesfield, Whitchurch, Stafford, Shrewsbury, Wolverhampton, Walsall, Derby, Nuneaton und Coventry. Es gibt 76 solcher Kapitel, die häufig in drei oder vier unterschiedliche Routen unterteilt sind. Das heißt, dass man immer alle wichtigen und nützlichen Informationen findet, auf die wir erst fast ein gutes Jahrhundert später durch Google zugreifen können, egal für welche Route man sich entscheidet. Die Grundstruktur der Baedeker-Methode findet sich auch in modernen »Routenplanern« mit ihren Bewertungs-systemen und kurzen historischen Abrissen, doch die originale Baedeker-Reihe
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