Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
orientiert sich einzig und allein am Reisen. Selbst wenn der Großbritannien-Baedeker über 100 Jahre alt ist und einige der Tipps nicht mehr ganz aktuell sind – man kann beispielsweise nicht mehr mit dem Dampfer anreisen –, würde ich ihn einem Besucher unserer Insel weit mehr ans Herz legen als jeden modernen Reiseführer, von denen ich überzeugt bin, dass sie uns nur beibringen, wie man »phonetisch« reist.
Auf der Hochzeit, wegen der ich mein erstes Abenteuer als Alleinreisender unternommen hatte, hielt ich einen Teil meiner Rede als Trauzeuge auf Polnisch, doch anstatt den Versuch zu machen, etwas von der Sprache zu lernen, bat ich Agnieszka, die Braut, darum, mir den Text in englischer Lautschrift aufzuschreiben. Die polnischen Gäste brachen dementsprechend in Gelächter aus, und die englischen zogen erstaunt die Augenbrauen hoch, doch ich verstand nicht viel von dem Kauderwelsch, das ich ablas. Von der polnischen Sprache war nichts bei mir hängen geblieben, und später erfuhr ich, dass ich die wichtigen Passagen zu hastig vorgetragen hatte und die Rede größtenteils völlig unverständlich gewesen war. Dasselbe passiert mir, wenn ich versuche, kulinarische Meisterwerke anhand eines Kochbuchs nachzukochen, das uns ebenfalls nur beibringen kann, wie man »phonetisch« kocht. Wenn wir der Anleitung präzise folgen, kommt etwas dabei heraus, das der Fotografie auf der entsprechenden Seite ähnelt, aber wieder haben wir keine Ahnung, welcher Prozess und welche Überlegungen hinter dem stehen, was wir getan haben. Wir haben eine Abkürzung genommen, und deshalb wissen wir nicht, woran es liegt, wenn es nicht funktioniert. Ich habe zwanzig solcher Kochbücher, und ich nehme nie etwas aus einem Rezept und wende es auf ein anderes an, weiluns diese Bücher nur beibringen, wie man ein bestimmtes Rezept zubereitet – wir beschäftigen uns nicht richtig damit und lernen nichts dabei.
Meiner Erfahrung nach funktionieren die meisten Reiseführer auf genau dieselbe Weise. Sie konzentrieren sich auf die Abkürzungen, die es einem ermöglichen, das Fremde zu erleben, ohne sich tatsächlich auf die Orte einzulassen, die man besucht. Das trifft natürlich nicht nur auf Reiseführer oder Urlaube zu. Es scheint vielmehr eine natürliche Konsequenz davon zu sein, dass unser Leben zunehmend schneller wird – viele unter uns leben heutzutage sogar nur noch phonetisch.
Damit will ich nicht sagen, dass der müßige Reisende keine Reiseführer mitnehmen soll, wenn er unterwegs ist. Ich nehme immer Bücher mit, von denen ich hoffe, dass sie sich als nützlich erweisen werden – der Unterschied besteht darin, dass ich sie für einen ganz speziellen Zweck auswähle. Sie sollen mir nicht sagen, was ich tun oder wohin ich gehen soll, vielmehr erwarte ich von ihnen, dass sie meinen Trip zum Leben erwecken.
Auf diese Idee bin ich zufällig vor einigen Jahren in Paris gekommen. Das Erste, was ich in meine Reisetasche packte, war ein Exemplar des Schakals von Frederick Forsyth. Darin wird die Geschichte eines einsamen englischen Attentäters erzählt, der von einer Gruppe von Terroristen angeheuert wird, um den französischen Präsidenten Charles de Gaulle zu ermorden. Ich hatte es schon früher auf einer Zugfahrt nach Berlin gelesen und mich gefragt, ob es nicht eine stärkere Wirkung entfalten würde, wenn man es auf einer Reise nach oder in Paris lesen würde.
Das Ergebnis war überwältigend. Als der Schakal mit der Fähre nach Frankreich und anschließend mit dem Zug zum Gare du Nord gelangt war, fuhr mein Eurostar gerade inParis ein. Wie ich auf meiner Polenreise entdeckt hatte, verändert sich auf langen, einsamen Reisen unsere Wahrnehmung der Welt um uns herum, und es liegt nahe, dass dieser veränderte Bewusstseinszustand sich auch auf ein literarisches Werk auswirkt – das unseren physischen Standort zumindest teilweise widerspiegelt – und darauf, wie wir die Erzählung erleben. Ich saß eine Weile auf einer Bank und las, wie der Schakal sich nach Brüssel durchschlägt. Immer wieder wird sein Fortkommen von der Pariser Polizei behindert, die darüber informiert worden ist, dass ein unbekannter englischer Scharfschütze auf dem Weg nach Paris ist. Ich verschlang eine Seite nach der anderen, während ich im Berufsverkehr in der Métro saß und anschließend einige Stunden in verschiedenen Cafés verbrachte, ich saß draußen, beobachtete die Straße und zuckte zusammen, als mehrere Regierungslimousinen aus
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