Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
ist, dass man Ortskenntnisse erwirbt, für die man normalerweise keine Zeit findet. An diesem Tag war ich nach Norden gegangen. Ich faltete meine Karte auf und las die Namen von Orten, die ich auf Schildern gesehen hatte, doch ich hatte mir bisher nicht die Zeit genommen, sie zu besuchen. Meine Augen hatten sich daran gewöhnt, das, was vor meiner Nase lag, zu ignorieren, doch nun begann ich, meine Heimat mit den Augen eines Reisenden zu sehen, und ich würde sie nicht länger links liegen lassen.
Kapitel 3
Sei dein eigener Reiseführer
Ich kenne nur eine Freiheit, und das ist die Freiheit des Geistes.
Antoine de Saint-Exupéry
Wenn Sie eine Reise planen, ist Ihr erster Impuls, zu einem herkömmlichen Reiseführer zu greifen. Sie gehen in einen Buchladen und schauen sich nach der Reiseabteilung um. Dort ist die Welt in Gruppen und Untergruppen von Informationen aufgeteilt. Sie suchen sich das entsprechende Land heraus und wählen einen der Reiseführer aus. Sie nehmen eine Marke, der Sie vertrauen oder deren Werbung bei Ihnen erfolgreich war, und erhalten somit ein tragbares Referenzinstrument. Kinderleicht. Anschließend können Sie sich entspannen, denn Sie haben alles, was Sie brauchen, um das Beste aus Ihrem Trip herauszuholen, und das wollen Sie ja schließlich, oder?
Wenn Sie besonders enthusiastisch sind, fangen Sie sofort an, das Buch zu lesen, nachdem Sie nach Hause gekommen sind, und vielleicht markieren Sie die wichtigsten Passagen oder Sehenswürdigkeiten mit gelben Klebezetteln. Falls Sie allerdings so veranlagt sind, wie ich es früher war, legen Sie das Buch beiseite und vergessen es bis zum Morgen der Abreise. Unterwegs lesen Sie es schuldbewusst, als wärenes Hausaufgaben, die Sie nicht erledigt haben. Vermutlich überblättern Sie den geschichtlichen Teil, weil er etwas langweilig ist, und lesen stattdessen den Abschnitt über die Anreise, den Sie nicht brauchen, weil Sie ja bereits unterwegs sind. Dann kommen Sie zu den empfohlenen Unterkünften und verspüren leichte Panik, falls die Bleibe, die Sie sich ausgesucht haben, ausdrücklich unter »Nicht empfohlen« aufgeführt sein sollte. Dann sind Sie irritiert, weil sie nirgends erwähnt wird oder teurer ist als alle anderen, und Sie fühlen sich mies, weil Sie so schlecht vorbereitet sind.
Mittlerweile sind Sie verunsichert genug, um die Sicherheitsinformationen durchzulesen: Wie findet man seine Botschaft, wie vermeidet man es, die Einheimischen zu beleidigen, und so weiter. Doch seien wir ehrlich, wenn es richtig schiefläuft, wird Ihnen sicher auch die Tasche mit dem Reiseführer geklaut – und dann nutzen Ihnen all die Informationen auch nichts mehr.
Dann kommen Sie zu einer Liste der Orte, die jeder Besucher »unbedingt gesehen haben muss«, damit die Reise kein Flop wird. Wenn Sie viel Glück haben, wird diese Liste durch einen Abschnitt ergänzt, in dem beschrieben wird, wo Ihr Reiseziel noch ganz »echt« ist, ein stillschweigendes Eingeständnis, dass die zuvor genannten Sehenswürdigkeiten wenig authentisch sind und für etwas stehen, das längst nicht mehr existiert.
Mittlerweile haben Sie wahrscheinlich kaum mehr das Gefühl, auf einer Urlaubsreise zu sein, wenn Sie sich in den wenigen Tagen, die Sie zum Entspannen haben, mit all diesen Stolpersteinen und den empfohlenen Besichtigungstouren herumschlagen müssen. Es dämmert Ihnen, dass der Reiseführer Ihnen nur Schuldgefühle vermittelt. Er ist voller Listen, die Sie abhaken müssen, und Aufgaben, die zu erledigen sind und die Sie sowieso niemals schaffen werden. Zuletztentdecken Sie die eine Seite, die Ihnen etwas nützen könnte, nämlich den Stadtplan oder die Landkarte, die Sie aber gar nicht benutzen werden, weil sie zwischen all diesen beunruhigenden Informationen versteckt ist – und Sie eine viel größere und buntere umsonst in der Lobby Ihres Hotels bekommen, sobald Sie dort eingetroffen sind.
Das ist ein bisschen unfair von mir, denn solche Reiseführer werden häufig von Leuten geschrieben, die das entsprechende Land oder die Stadt lieben und nur hilfreich sein wollen. Außerdem müssen sie gewissen Vorgaben entsprechen, die den Autoren kaum Freiheiten lassen, das zu schreiben, was sie wollen, daher stehen Checklisten und besonders beliebte Sehenswürdigkeiten im Vordergrund. Mein Problem mit solchen Reiseführern besteht vor allem darin, dass sie die eigene Reiseerfahrung so stark einschränken – so dass einem selbst nicht mehr viel zu tun bleibt. Ich
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