Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
deren Tore erstaunlicherweise nicht von Rowdys umgeworfen worden waren. Dann nahmen uns die Wälder auf, bevor ein Tunnel uns endgültig verschlang.Ich las gerade Die Welt von Gestern von Stefan Zweig, der für mich zu einem Helden des langsamen Reisens geworden war, nachdem ich seinen erstaunlichen Essay »Reisen oder Gereist-Werden« aus dem Jahr 1926 gelesen hatte. Zweig war jemand, dessen Ansichten über das Reisen meinen eigenen entsprachen. Er wurde 1881 in Wien geboren, fand schon früh Anerkennung in den literarischen Cafés der österreichischen Hauptstadt, wollte sich aber auch anderswo beweisen und ging erst nach Berlin, dann nach Frankreich und Belgien. Er verstand sich als Pazifist, arbeitete jedoch während des Ersten Weltkriegs für das Kriegsministerium. Nach Kriegsende kritisierte er die blutdürstigen Touristen, die zu den Schlachtfeldern von Ypern kamen, um grell angemalte Patronenhülsen und Granaten zu kaufen und die Reste menschlicher Gebeine zu begaffen, die beim Pflügen ans Tageslicht gekommen waren. Als die Nazis an die Macht kamen, floh er zuerst nach London und ging dann in die USA, wo er seine Karriere als Journalist, Dramatiker und Autor fortführte. Er war ein Zeitgenosse von Sigmund Freud und schrieb viel beachtete Biografien von Balzac, Dickens, Nietzsche und Marie Antoinette. Tragischerweise beendeten er und seine Frau ihre Leben gemeinsam im Februar 1942, weil ihr geliebtes Europa geschändet worden war und in ihren Augen keine Zukunft mehr hatte.
Das Reisen ist oft mit einer Art spirituellen Erwachens in Verbindung gebracht worden, was bis in die Zeiten der religiösen Pilgerfahrten zurückgeht. Zweigs Reiseleben wurde ebenfalls zu einer solchen Pilgerfahrt, auch wenn er dazu genötigt war, sich immer weiter von seinem geliebten Heimatland zu entfernen. Da er einen Großteil seines Lebens damit verbrachte, einer Stadt zu entfliehen, in die er nie zurückkehren konnte, wurde das Reisen zu seiner eigentlichen Heimat.
In »Reisen oder Gereist-Werden« lässt er sich über das Aufkommen einer neuen Form von Tourismus aus, die heute weit verbreitet ist. Zunächst erörtert er, wie sehr er die Bahnhöfe Europas liebt, wie er stundenlang dort sitzen und die Geräusche und Gerüche jeder Nation in destillierter Form in sich aufnehmen kann. Er vergleicht sie mit einem neuen Bahnhofstypus, der gerade im Entstehen begriffen ist, Orte ohne jegliche Atmosphäre, die die Welt auf eine Auflistung im Fahrplan eines Fremden reduzieren – des modernen Reiseagenten. Er wettert gegen die »mathematische Organisation«, die sie anbieten, indem sie alles für einen vorausplanen, und zeigt auf, dass einem nichts mehr zu entdecken oder zu erforschen bleibt, wenn man keine Rolle mehr auf seiner eigenen Reise spielt. Auf Gruppenreisen stehe immer jemand bereit, um zu verhindern, dass man »durch falsche Gassen stolpern« kann, und Zweig beklagt die neumodische Angewohnheit, »nur an vielem Neuen vorbeizufahren, nicht ins Neue hinein«. Er hat wenig Geduld für die Massen, die als Teil großer Touristengruppen ankommen, um die wichtigsten Sehenswürdigkeiten abzuhaken, denn sie brächten nichts heim als »den sachlichen Stolz, diese Kirche, jenes Bild tatsächlich vor Augen gehabt zu haben – ein Rekord mehr sportlicher Art als Gefühl innerer Bildung und kultureller Bereicherung.« Er endet mit einem Appell, dass das Reisen bewahrt werden soll als »Verschwendung …, Hingabe der Ordnung an den Zufall, des Täglichen an das Außerordentliche …, denn nur so wird jede Reise zur Entdeckung nicht nur der äußeren, sondern auch unserer eigenen inneren Welt.« Man kann sich vorstellen, was er über das heutige Reisen sagen würde.
Die Welt von Gestern ist Zweigs Autobiografie, und sie erzählt die Geschichte Europas vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Sie gewinnt an Nachdrücklichkeit, wennman weiß, dass er sich das Leben nahm, kurz nachdem er sie beendet hatte. Das Wien von Zweigs Kindheit im ausgehenden 19. Jahrhundert war das bedeutendste kulturelle Zentrum der Welt, frei von Vorurteilen und Angst. Zweig bringt diese Freiheit zum Ausdruck, indem er über die dort vorherrschende Haltung gegenüber Geschwindigkeit und Zeit schreibt:
Denn es war kein Jahrhundert der Leidenschaft, in dem ich geboren und erzogen wurde. Es war eine geordnete Welt mit klaren Schichtungen und gelassenen Übergängen, eine Welt ohne Hast. Der Rhythmus der neuen Geschwindigkeiten hatte sich noch nicht von den
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