Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Verlockung oder lassen sich von ihr inspirieren, nur um zu erleben, dass sich der eigentliche Zweck unserer Suche erst herausstellt, nachdem wir uns haben verführen lassen. In meinem Fall handelte es sich nicht um ein Stück Dinosaurierhaut, sondern um die Feder eines Goldadlers, die an der Wand meines Schlafzimmers befestigt war, ein Souvenir, das mir ein Falkner gegeben hatte, dem ich vor einigen Jahren in Schottland begegnet war. Er hatte mir gestattet, den Goldadler, von dem die Feder stammte, für einen Moment auf meiner Faust zu halten – einer der Momente, in dem sich meine Zeitwahrnehmung zu verändern begann. »Fantastisch« ist ein Wort, das ich häufig benutze, doch in diesem Fall gewann es seine eigentliche Bedeutung zurück. Egal wie oft einem gesagt wird, dass ein Raubvogel niemals seinen Schnabel benutzt, um anzugreifen – er greift seine Beute mit den Krallen –, wenn man einen Goldadler auf seiner Faust sitzen hat und sein Schnabel nur wenige Zentimeter von der eigenen Nase entfernt ist, ziehen sich einem unwillkürlich die Eingeweide zusammen. In seinen lebhaften gelben Augen, die von meinem Gesicht zum Himmel und wieder zurück zuckten und sich beunruhigenderweise auf meine linke Wange richteten, ließ sich kein Anzeichen von Bewusstsein ausmachen.
Das immense Gewicht des Adlers ermüdete meinen Arm, und da er spürte, dass seine Sitzstange nachgeben würde,breitete er langsam seine Flügel aus, um das Gleichgewicht zu halten; die Spanne aus braunen und weißen Federn erstreckte sich weiter über mich hinaus, als ich mit einer Kopfdrehung sehen konnte. In diesem Moment fühlte ich mich vollkommen hilflos – in nächster Nähe eines so majestätischen, wilden Geschöpfs zu sein war faszinierend und angsteinflößend zugleich. Wie ich bereits seit langem ahnte, können Adler einem nicht nur einen seltenen Einblick in die Welt der Natur vermitteln, sondern auch eine ganz neue Sicht auf die eigene Innenwelt.
Der Mensch ist seit Jahrtausenden von Greifvögeln fasziniert, und die Falknerei ist sicherlich der ultimative Ausdruck davon. Raubvögel (wie Adler, die ihre Beute auf dem Land und zu Wasser jagen) und Falken (die gewöhnlich in der Luft jagen) sind im Allgemeinen eher träge, was ein weiterer Grund dafür sein könnte, dass sie mir so gut gefallen. Ihr Motto lautet vermutlich: »Minimaler Aufwand, maximale Wirkung.« Haben sie eine potenzielle Beute ausgemacht, dann können sie instinktiv berechnen, ob der Aufwand, die Beute zu erjagen, die Anstrengung lohnt. Ich bin mit Wüstenbussarden auf der Jagd gewesen, und sie drehen ihre Schnäbel nach oben, wenn eine Wühlmaus ihnen zu mickrig vorkommt oder ein dickes Kaninchen zu weit entfernt ist. Wenn sie die Beute erlegt haben, gibt ihnen der Falkner etwas Futter (was für den Vogel verträglicher ist, da es nicht lebendig ist und daher kein Risiko besteht, dass er sich verletzt). Dann steckt der Falkner die Beute in seine Tasche, um sie selbst zu essen oder dem Falken zu geben, wenn er nach Hause kommt.
Der früheste bekannte Beleg für die Falknerei stammt aus der Zeit um 700 v. Chr., und das erforderliche Training und die nötige Ausrüstung sind seither nahezu unverändert geblieben. Der Sport stammt vermutlich aus China undverbreitete sich westwärts über die asiatischen Wüsten, den Mittleren Osten und Afrika, bevor er auch in Europa Fuß fasste. Die Falknerei wird in den Schriften der arabischen Astronomen, in der altsächsischen Dichtung, in den alten Legenden der japanischen Samurai und natürlich in unseren englischen Sagen von den Rittern der Tafelrunde erwähnt. In den Bergen von Kasachstan findet man noch heute Männer, die mit ihren Söhnen zu Pferd auf die Jagd nach Füchsen und kleinem Rotwild gehen und dabei einen Goldadler auf ihrer Faust tragen. Wenn die Jungen 16 Jahre alt sind, werden sie an einem Seil zu einem Adlerhorst auf einem Felsvorsprung hinabgelassen, um einen jungen Adler zu stehlen. Er wird sechs Monate lang in seinen natürlichen Fähigkeiten trainiert und ist in den darauffolgenden neun Jahren ihr Begleiter. Danach wird er wieder in die Wildnis entlassen, wo er noch weitere 20 Jahre lang leben kann (in Gefangenschaft kann er allerdings bis zu 80 Jahre alt werden).
Die Falknerei wird häufig mit anderen Jagdsportarten in einen Topf geworfen, aber auf mich wirkt sie so faszinierend, weil man ein vollkommen natürliches, wildes Verhalten aus der Nähe betrachten kann und die eigene Wahrnehmung sich
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