Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
langen Sitzbank aus rotem Plüsch zusammengerollt. Wir kamen beinahe zum Stehen, als hätte der Zug einen Stromausfall, und ich sah zu, wie die zerlumpten Männer selbst gebrannten Schnaps aus grünen Flaschen tranken, sie unterhielten sich dabei und lachten. Dann nahm der Zug wieder Fahrt auf.
Ich wandte mich erneut meinem Buch zu. Hitler hattealso vorgehabt, die tschechische Sprache auszurotten. Warum? Weil er wusste, dass die Menschen dadurch endgültig von den singulären Begriffen und Vorstellungen abgeschnitten wären, die ihre Sprache beinhaltete, und damit die Verbindung zu ihren Vorvätern, ihren Mythen, ihrer Geschichte zerstört wäre, die auf komplexe Art und Weise definierten, wer und was sie waren. Hitler wusste, wenn er sie dazu zwang, Deutsch zu sprechen, würde er buchstäblich dazu in der Lage sein – indem er die Sprache durch Propaganda kontrollierte –, der tschechischen Bevölkerung die Fähigkeit zum Denken zu nehmen. Innerhalb weniger Generationen hätte er sein Ziel erreicht, und die tschechische Identität wäre nur noch eine Erinnerung und im schlimmsten Fall gar nicht mehr vorhanden. Wahrscheinlich hatte er vor, dieses Prinzip auf alle europäischen Nationen im zukünftigen »Vierten Reich« anzuwenden. Stefan Zweig war noch am Leben, als Hitler diese Rede hielt, und ihm muss deutlich bewusst gewesen sein, was sich dahinter verbarg.
Bald fuhren wir durch die Hügellandschaft der heutigen Tschechischen Republik. Die Flüsse waren zugefroren, doch als wir in tiefer liegendes Gebiet kamen, bemerkte ich einige tapfere Angler an den Ufern, die ihre Köder an den wenigen Stellen ausgeworfen hatten, wo das Wasser noch nicht vereist war. Die Farbpalette begann sich zu verändern, und gelegentlich sah ich ein Orange oder helles Gelb zwischen den monotonen Grün- und Brauntönen aufblitzen. Wir fuhren zwischen großen weißen Gebäuden und Kirchen mit türkisfarbenen Türmen und kleinen Kuppeln hindurch – die bewaldeten, farbig betupften Hügel geleiteten uns nach Böhmen. Als Wilf und Rachel eine halbe Stunde später aufwachten, wusste ich, dass es in Prag eine »Sehenswürdigkeit« gab, die ich unbedingt besuchen wollte.
Am nächsten Morgen machten wir uns auf, um diekleine, eher unscheinbare Kirche St. Kyrill und Methodius zu suchen, die in der Nähe der Wohnung liegt, die einst Havels Familie gehörte. Die Kirche lag versteckt in einer Seitenstraße, weit weg von der Karlsbrücke und dem Prager Schloss, und wir liefen durch eine Wohngegend und entfernten uns immer mehr von den Hauptgeschäftsstraßen. Im hinteren Teil einer Straße entdeckte ich über einer grauen Tafel einige kleine Löcher über einem länglichen Schlitz in einer Wand, der wie ein Briefkasten aussah. Das war der Ort, nach dem wir gesucht hatten.
Die Löcher stammten von den Kugeln, die die 700 SSMänner abgefeuert hatten, als sie einen Tag und eine Nacht lang versucht hatten, die tschechischen Soldaten und Widerstandskämpfer zu töten, die im Sommer 1942 ein erfolgreiches Attentat auf Reinhard Heydrich verübt hatten. Es war der letzte Akt der »Operation Anthropoid«, ein riskanter Plan, den die tschechische Exilregierung und das Special Operations Executive, eine britische nachrichtendienstliche Spezialeinheit (die 1940 von Winston Churchill gegründet worden war und für Spionage, Sabotage und Aufklärung zuständig war), gemeinsam entwickelt hatten. Die Tschechen Jozef Gabèík und Jan Kubiš waren zusammen mit sieben weiteren Soldaten, unter denen sich auch Karel Èurda befand, mit dem Fallschirm über der Tschechoslowakei abgesprungen und nach Prag gelangt, wo sie zu den Widerstandskämpfern stießen. Am 27. Mai stoppten sie Heydrichs Wagen auf dem Weg zum Prager Schloss. Gabèík stand auf und eröffnete das Feuer, doch seine Waffe hatte eine Ladehemmung, woraufhin Kubiš eine Handgranate warf, die neben dem Auto landete und explodierte. Der anscheinend unverletzte Heydrich schoss zurück und nahm die Verfolgung auf, bevor er zusammenbrach. In der Annahme, dass der Anschlag gescheitert war, rannten die Attentäter davon.Heydrich starb erst eine Woche später an seinen Verletzungen, doch inzwischen waren die Ermittlungen zügig vonstattengegangen, und die Vergeltungsmaßnahmen waren grausam. Èurda verriet das Versteck der Attentäter in der Krypta gegen eine Belohnung von einer halben Million Reichsmark, und die Nazis fielen in die Kirche ein, entschlossen, an den Tschechen, die es gewagt hatten, sich gegen
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