Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
verlangsamt, wenn man sich von dem Instinkt des Vogels leiten lässt. Innerhalb weniger Stunden beginnt man, auf kleine Säugetiere im Unterholz aufmerksam zu werden, durch das man sonst einfach hindurchstolpert. Außerdem ist es eine Beziehung auf Augenhöhe. Greifvögel bleiben nur so lange bei einem Falkner, wie er sich als effizientere Futterquelle erweist als die Wildnis. »Schlechte« Falkner müssen häufig erleben, dass ihre teuren Vögel ihnen einfach davonfliegen.
Obwohl ich bereits Erfahrungen mit allen möglichen Greifvögeln gemacht habe, hatte ich bis vor kurzem noch niemals Adler in ihrer natürlichen Umgebung beobachtet. Immer wenn ich die Feder an der Wand betrachtete, war mirdeutlich bewusst, dass ich die Adler nie als Herrscher über ihr eigenes Reich gesehen hatte. Ich glaube, ich finde sie deshalb so faszinierend, weil sie nicht exotisch sind wie die Tiere, die in der afrikanischen Savanne herumlaufen, sondern eine lebendige Manifestation des alten England. Sie repräsentieren einen Teil meiner selbst, von dem ich zwar wusste, dass er existierte, den ich aber nie näher erkundet habe.
Statistisch gesehen ist Großbritannien sowohl geologisch als auch klimatisch eine ganz durchschnittliche Insel. Das erklärt vermutlich, warum wir in anderen Ländern vor allem auf der Suche nach eindrucksvollen Landschaften und besserem Wetter sind. Doch was Adler betrifft, zählen wir zur weltweiten Spitzenklasse. Die schottische Insel Mull weist die größte Adlerpopulation in ganz Europa auf, und obwohl sie nicht ganz so schwierig zu erreichen ist wie Patagonien, brauchten mein Begleiter Kevin Parr und ich mit Zug, Bus und Fähre doppelt so lange, um dorthin zu gelangen, wie ein Flug von London nach Buenos Aires gedauert hätte. Das mag vielleicht nach einem absoluten Albtraum klingen, doch für den müßigen Reisenden bedeutet es, dass die Reise von London nach Mull per Zug, Bus und Fähre ein größeres Bravourstück in Selbsterforschung ist, als ein Flugzeug nach Südamerika zu nehmen. Beim langsamen Reisen geht es schließlich nicht um Tempo und Entfernungen – sondern um Reflexion und Tiefgang.
Im Gedenken an Chatwin fragte ich meinen alten Freund Kev, der ebenfalls ein Greifvogelfan ist, ob er mich begleiten würde, um einen Goldadler in seiner natürlichen Umgebung aufzuspüren. Wie sind bereits mehrmals gemeinsam unterwegs gewesen, um ungewöhnliche Vögel zu beobachten, die in England landen, weil sie sich während des Vogelzugs verflogen haben. Einmal sind wir vor Sonnenaufgang sechs Stunden auf gut Glück durch Cornwall gefahren, umeine verirrte Schneeeule zu sehen (die erste wild lebende, die in Großbritannien seit 1957 dokumentiert wurde). Es hat etwas Tröstliches, dass die Natur sich auch gelegentlich irrt.
Kev hatte gerade frei und schlug sofort vor, dass wir auf die Insel Mull fahren sollten. Als ich den Hörer auflegte, hatten wir beschlossen, am Dienstagabend in den Nachtzug von London nach Glasgow zu steigen, am nächsten Morgen die dreistündige Zugfahrt nach Oban anzutreten und anschlie-ßend die Fähre nach Craignure auf Mull zu nehmen. Bei unserer Ankunft würde es schon dunkel sein, aber wir hätten den ganzen Samstag Zeit, auf die Suche nach Adlern zu gehen, bevor wir am Sonntag zurückfahren müssten. Es war zwar Dezember und würde nur acht Stunden lang hell sein, doch das war Absicht. Weniger Licht bedeutete auch weniger Touristen. Ich würde am Montag um sieben Uhr früh wieder in London sein und könnte direkt zur Arbeit gehen.
Die Aussicht, dass ich endlich Adler in freier Wildbahn sehen würde, erfüllte mich mit nervöser Vorfreude, obwohl sich bald herausstellte, dass wir schon sehr viel Glück bräuchten, um überhaupt einen zu entdecken. Abgesehen von den Adlern freute ich mich auch darauf, Zeit mit einem alten Freund zu verbringen. Ich hatte Kev schon beinahe ein Jahr nicht mehr getroffen, und das letzte Mal hatten wir nur ein paar Worte bei einem Bier vor und nach einem Fußballspiel gewechselt. Unser ganzes Leben lang hat er mich mit seinen Kindheitserinnerungen an Ferien auf Mull und unzähligen Adlergeschichten unterhalten, und endlich war ich selbst auf dem Weg dorthin.
In London musste ich einige Meetings absolvieren und eine Feier mitorganisieren, als er anrief, um mir zu sagen, dass unser Trip vielleicht nicht ganz nach Plan verlaufen würde. Er kicherte in den Hörer.
»Hast du den Wetterbericht gehört?«
»Äh, nein«, antwortete ich. »War zu
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