Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
sie aufzulehnen, ein Exempel zu statuieren.
Heute kann man in die Krypta hinuntersteigen und sich eine kleine Fotoausstellung ansehen, die von der Operation und ihren Folgen erzählt. Die Anzahl der Menschen, die von den Nazis aus Rache für Heydrich getötet wurden, beläuft sich auf 3000 bis 5000. Das schlimmste Massaker fand im Dorf Lidice statt, das dem Erdboden gleichgemacht wurde, nachdem die Ermittlungen angeblich »bewiesen« hatten, dass die Attentäter dort Zuflucht gefunden hatten. Alle 199 männlichen Einwohner des Dorfes wurden exekutiert und fast 300 Frauen und Kinder in die Konzentrationslager verschleppt.
In der hinteren Wand der Krypta kann man das Loch sehen, durch das die Männer in ihrer Verzweiflung versuchten, in die städtische Kanalisation und somit in die Freiheit zu gelangen. Sie arbeiteten die ganze Nacht daran, während die SS-Soldaten sie mit Gewehrfeuer, Gas und Granaten bombardierten und schließlich die Kirche unter Wasser setzten. Früh am nächsten Morgen vernahmen die SS-Männer zwei Schüsse, dann war alles still. Als ihre Munition aufgebraucht war, hatten die beiden Überlebenden – Kubiš und Gabèík – ihre letzten zwei Kugeln dazu verwendet, sich selbst zu erschießen. Später stellte sich heraus, dass sie nur noch 30 Zentimeter gebraucht hätten, um die Wand zu durchbrechen und flüchten zu können. Die Vergeltungsmaßnahmen waren derartig grausam gewesen, dass die Operation kaum alsErfolg gelten konnte, doch die Ermordung des höchstrangigen Nazioffiziers, der während des gesamten Krieges getötet wurde, wirkte sich auf die Moral der Alliierten aus. Nach dem Krieg unternahm Èurda einen erfolglosen Selbstmordversuch, 1947 wurde er in Prag wegen Hochverrats gehängt.
Wie ich in der Krypta zwischen diesen Fotografien stehe, ist eine der Reiseerinnerungen, die mir immer wieder in den Sinn kommt. Wir verließen diesen Ort niedergeschlagen, waren aber gleichzeitig froh, dass wir über die Geschichte dieser Männer gestolpert waren, die davon erzählt, wie viel Mut die Menschen auch in ausweglosen Situationen noch an den Tag legen können.
Drei Jahre nachdem die Nazis besiegt worden waren, fiel die Tschechoslowakei einem von Stalin unterstützten kommunistischen Putsch zum Opfer und wurde Teil des Ostblocks. Václav Havel war damals zwölf Jahre alt. Es folgten 41 Jahre Diktatur, doch schließlich gelang es ihm, als freier, demokratisch gewählter Präsident der Tschechischen Republik daraus hervorzugehen. Zuvor hatte er den Mut aufgebracht, geheime Aufführungen von Theaterstücken zu inszenieren, von denen er einige selbst verfasst hatte. Auch er wusste um den Wert von Sprache und Ideen und wollte nicht zulassen, dass die Stimme seiner Nation unterdrückt wurde. Außerdem war er Mitverfasser der Charta 77, die 1977 veröffentlicht wurde, ein Manifest, das sich für Veränderung aussprach und von der Regierung verboten wurde, die Urheber wurden als »Verräter und Renegaten« bezeichnet, und anschließend wurden die bekanntesten Unterzeichner, unter ihnen auch Havel, für fünf Jahre ins Gefängnis geschickt.
Nach seiner Entlassung engagierte sich Havel in allerÖffentlichkeit, und nachdem die Berliner Mauer am 9. November 1989 gefallen war, war auch das tschechische Volk bereit, auf die Straße zu gehen. Theater und Büchereien wurden zu Horten der Demokratie, in denen sich Diskussionsforen bildeten. Die Bühnen wurden dem Publikum übergeben und dazu benutzt, öffentliche Versammlungen abzuhalten. Schauspieler und Studenten streikten und demonstrierten. In den letzten Tagen der Revolution setzten die Büchereien die Zensurbestimmungen außer Kraft, indem sie verbotene regimekritische Bücher freigaben. Es wurden Massenstreiks organisiert, und bis zu 800 000 Menschen versammelten sich, um auf den Straßen zu demonstrieren. Schließlich zwang die unblutige, samtene (oder auch »sanfte«, wie die Slowaken sie nennen) Revolution die kommunistische Regierung zum Rücktritt, und Havel wurde am 29. Dezember 1989 zum Präsidenten ernannt. Zweig wäre begeistert gewesen.
Wir fanden einige der Theater und stiegen auf den Laurenziberg, wo der junge Havel und seine Mitstreiter über ihre Hoffnungen und Träume für die Zukunft diskutiert hatten. Ich blickte hinunter auf die Stadt, und obwohl ich wusste, dass ich nur einen winzigen Bruchteil ihrer jüngeren Geschichte erforscht hatte, hatte ich das Gefühl, ich könnte das Leid, die Stärke und den Stolz spüren, die in diesen
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