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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Kieran
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die eigenen Vorurteile aufgibt. Ich glaube, auch Chatwin sprach in seinem berühmten Zitat davon: »Des Menschen wahre Heimat ist nicht das Haus, sondern der Weg, und das Leben selbst ist eine Reise, die zu Fuß zurückgelegt werden muss.«
    Kev, Bryan und ich verbrachten an diesem Morgen nocheinige Stunden damit, die Tierwelt von Mull zu beobachten, und es stellte sich heraus, dass er recht gehabt hatte, was das Wetter betraf. Doch am frühen Nachmittag, als wir zurück in Craignure waren und zur Feier des Tages mit einigen Flaschen Newcastle Brown Ale anstießen, konnte ich ihn davon überzeugen, dass ich recht gehabt hatte, was das langsame Reisen und die Belohnung durch den Zufall betraf. Er hatte keine andere Erklärung für die sieben verschiedenen Adler, die wir in weniger als vier Stunden gesichtet hatten: vier Seeadler (zwei davon im Flug) und drei Goldadler. Außerdem sahen wir eine Ottermutter, die mit ihren beiden Jungen am Rand des Loch Scridain entlangschwamm, Eistaucher, Kreuzschnäbel und zahllose Bussarde, doch unsere außergewöhnlichste Beobachtung machten wir, kurz bevor das Wetter uns zwang, für diesen Tag aufzuhören. An einem Ort, den ich nicht nennen darf (aber
    Bryan bringt Sie vielleicht hin, wenn Sie Glück haben), brachte er es fertig, einen Goldadler aufzuspüren, der in einer Eiche saß, und durch das Teleskop konnte ich genau sehen, wie er blinzelte. Wir fotografierten ihn mit meinem iPhone durch den Sucher, und trotz meiner Vorbehalte gegen Fotografien hängt dieses Bild jetzt neben der Feder zu Hause in meinem Büro.

    Unser Abenteuer war noch nicht vorbei. Obwohl es im Pub noch immer keinen Strom gab, kam eine örtliche Band vorbei, um den 30. Geburtstag eines Freundes zu feiern. Die meisten von ihnen waren in Craignure geboren, und das Wetter und der Stromausfall hatten sie nicht etwa abgeschreckt, sondern eher noch angespornt, von Glasgow heraufzukommen. Sie spielten bis spät am Abend, saßen dabei um einen Tisch herum und feierten miteinander, indem siemusizierten, anstatt sich einfach nur zu unterhalten. Zu einem Instrument zu greifen schien für alle ganz selbstverständlich zu sein, dazu sangen sie abwechselnd. Ein Mädchen in einem zu großen weißen Pullover und gelben Gummistiefeln gab eine gelungene Coverversion von »Someone Like You« von Adele zum Besten. Ich konnte den Song vorher nie leiden, aber sie sang ihn mit einer Kraft, die ganz und gar authentisch wirkte. Crispin, der Leadsänger, hatte etwas so Intensives an sich, dass ich mich fragte, wen er ansang oder vielmehr anschrie. Dann bemerkte ich das Mädchen, das ihn zwischen den Songs mit einem starken Gebräu aus Jack Daniels, Jägermeister und Red Bull versorgte. Sie alle tranken und sangen wie die Teufel, sogen die Liebe, das Leben und den Alkohol auf wie ein Verdurstender den Morgentau. Irgendwann stolperte ein Mädchen aus der Damentoilette und verlangte mein Notizbuch. Sie schrieb hinein: »Heute hat mein Bruder Geburtstag. Christina.«
    Während ich mich im Hintergrund hielt und versuchte, meine Notizen für den Tag aufzuschreiben, konnte ich sehen, dass Kev die Situation zunehmend genoss. Schließlich machte er den Fehler, nach einer der Gitarren zu greifen, die neben ihm an der Wand standen. Die Band und ihre Freunde bemerkten es, und Crispin schrie alle im Pub an, sie sollten ruhig sein. »Du hast die Gitarre genommen, also musst du auch spielen!«
    Für Kev gab es kein Zurück. Sie riefen im Chor, er solle etwas für sie singen. Der ganze Pub fiel mit ein, und in diesem Moment ging das Licht wieder an. Vier Tage lang waren der Craignure Inn und die umliegenden Dörfer ohne Strom gewesen, und plötzlich war die Dunkelheit vorüber. Ich fand mich von einer behaglichen dunklen Taverne in einen nicht weiter bemerkenswerten Pub versetzt, an dessen Wänden kitschige Dekorationen und signierte Fotos von Bill Baileyhingen. Alles lachte, jubelte und verlangte noch inbrünstiger danach, dass Kev einen Song spielte. Ich wäre an seiner Stelle vor Verlegenheit gestorben, doch Kev ist aus robusterem Holz geschnitzt als ich. Er zog einen Stuhl heran, brachte alle zum Schweigen und sagte, er würde ein Gedicht rezitieren. Er ergriff den Augenblick auf unvergessliche Weise, so viel war klar, und jetzt konnte ihn nichts mehr daran hindern.
    Der ganze Pub drängte den »Engländer«, endlich anzufangen. Und das tat er. Er stand da, mit stolz geschwellter Brust, und nur er selbst weiß, zu wem er sprach und weshalb, aber

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