Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
erkennen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass das Ganze nicht unbedingt nachvollziehbar ist, aber es ist hilfreich, um zu erklären, warum uns die Dimensionen des Landes, durch das wir fuhren, so verändert erschienen.
Uns wurde bewusst, dass man nicht wirklich ein Teil desLandes ist, wenn man sein Leben damit verbringt, es mit großer Geschwindigkeit auf Autobahnen und zweispurigen Schnellstraßen zu durchqueren. Man reduziert das Land auf eine Reise von A nach B und nimmt alles andere überhaupt nicht mehr wahr. Mit einem Milchwagen darf man nicht auf die Autobahn, also mussten wir uns an die Fern- und Landstraßen halten und wann immer es möglich war, kleine Feldwege benutzen, die von endlosen Hecken gesäumt waren. Wir nahmen das Land, durch das wir fuhren, nicht nur wahr – wir wurden tatsächlich zu einem Teil davon.
Damit meine ich nicht etwa, ich hätte meine Identität verloren, vielmehr begann ich, meinen Platz in der Welt, in der ich lebe, mit vollkommen anderen Augen zu sehen. Es gab keine Kluft mehr zwischen mir selbst und meiner Umgebung. Sie war nicht länger zu meiner Unterhaltung oder zu meinem Nutzen da – wir waren miteinander in Beziehung getreten. Das ist natürlich ein großer Unterschied zu unserem alltäglichen Leben, in dem wir uns immer mehr von der Natur entfernen, auch wenn uns das scheinbar belanglos vorkommt.
Das Tempo des normalen Alltags offenbarte sich mir nur allzu deutlich, als mein Schwager James uns besuchte, während wir auf einem Campingplatz Rast machten (Pras hatte mittlerweile herausgefunden, wie man die Stromstärke, die der Milchwagen benötigte, von einem bestimmten Stromverteiler für Wohnwagen abzapfen konnte). Wir fuhren nur einige Kilometer in seinem Auto, um Bier und Würstchen zum Grillen einzukaufen, und er fuhr nicht besonders schnell – nicht mehr als 80 km/h –, aber ich hatte das Gefühl, als säße ich in einem Dragster. Angesichts der absurden Geschwindigkeit verfiel ich in Panik, und alles, was ich durch das Fenster sah, hatte auf einmal seine Bedeutung verloren. Außerdem wurde mir schlecht. In diesem Moment begriff ich, an welches Tempo wir uns beim Reisen gewöhnt haben.
Im Auto wurde mir außerdem bewusst, wie wenig ich auf das Land höre , in dem ich lebe. Wie die meisten von uns befinde ich mich normalerweise in irgendeinem Gehäuse und höre Musik oder Radio, egal ob es sich dabei um ein Haus, einen Pub, ein Auto oder einen U-Bahn-Zug handelt. Ein Milchwagen ist sehr leise, und wir gewöhnten uns an den Soundtrack unserer jeweiligen Umgebung, der nur von unseren gelegentlichen Gesprächen unterbrochen wurde. Da wir im Frühjahr unterwegs waren, wurde dieser natürliche Soundtrack, hinter dem man noch immer Fetzen des Rauschens der Stadt ausmachen konnte, zunehmend lebhafter. Alle Arten von »modernen« Geräuschen erschienen uns mehr und mehr als Beeinträchtigungen, die davon ablenkten, wie es eigentlich sein sollte. Es war, als hätte die Welt etwas von ihrer Magie zurückgewonnen, und mir fielen Dinge auf, die ich vorher aus Gewohnheit einfach ignoriert hatte. Weil wir so langsam reisten, nahmen wir unsere Umwelt sehr viel weniger funktional, strukturiert und profan wahr.
In einem besonders tiefgründigen Moment begann ich mich zu fragen, ob wir der Landschaft, durch die die Argonauten der Moderne so achtlos hindurchdonnern, ihre mythologische Komponente zurückgaben. Natürlich ist das verrückt. Was wir taten, veränderte den Kontext, durch den unser Gehirn unser Dasein erfasst. Genau um diese veränderte Wahrnehmung geht es im Grunde beim Reisen.
Zwei Wochen später, als wir die Grenze zwischen Wiltshire und Dorset erreicht hatten, begann ich mich an unseren neuen Tagesablauf zu gewöhnen. Während ein Teil meines Gehirns noch mit den spannenden neuen Erfahrungen kämpfte, die die Langsamkeit uns zugänglich macht, bemühte sich derandere Teil darum, auf eine planvollere Weise mit den Gegebenheiten umzugehen. Wenn man den Milchwagen so lange fährt, bis die Batterien völlig erschöpft sind, geht er kaputt, also mussten wir einen Kompromiss finden. Anstatt den ganzen Tag lang zu fahren und abends dann verzweifelt nach einem Platz zum Übernachten und zum Aufladen zu suchen, hielten wir nur mitten am Tag an, wenn wir gerade in einem Industriegebiet waren. Wir luden unsere Batterie bei einer Hypnos-Bettenfabrik (die die Queen beliefert), bei Supermärkten und bei einem Elektro-Großmarkt auf. Das war vielleicht nicht ganz so
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