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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Kieran
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würden wir übernachten? Wie konnten wir den verdammten Milchwagen aufladen? Ich will nicht sagen, dass es unerfreulich war – wir hatten eine fantastische Zeit; im Rückblick erscheint es nur ziemlich ironisch, dass wir uns auf ein scheinbar langsames und stressfreies Abenteuer eingelassen hatten, das vollkommen davon abhing, dass wir diese täglichen Rituale bewältigten.
    Der Milchwagen hatte eine Höchstgeschwindigkeit von 25 Stundenkilometern, also schlichen wir buchstäblich durch die Gegend. Die ersten Tage war das Wetter grässlich, und wir zitterten im Inneren des kleinen, ungemütlichen Gefährts vor Kälte, aber wir gaben nicht auf und trafen bald auf Menschen, die von unserem ausgefallenen Unternehmen so angetan waren, dass sie uns unbedingt helfen wollten. Gegen Ende der ersten Woche begannen wir langsam daran zu glauben, dass unser Trip gelingen könnte, und entspannten uns. In diesem Moment veränderte sich unsere Wahrnehmung. Der Elektromotor war so leise, dass er dieWildtiere nicht verscheuchte, und wir gewöhnten uns daran, auf kleinen Feldwegen von Hasen, Kaninchen und Vögeln begleitet zu werden. Einmal fuhren wir einen Hügel hinauf und wurden von einer Hummel überholt.
    Durch das langsame Tempo veränderte sich auch unser Gefühl für Entfernungen. Für eine Strecke, die man mit dem Auto leicht in zwei Stunden schaffen kann, brauchten wir strapaziöse vier Tage, und daran gewöhnten wir uns nur schwer. Beim Wandern oder Radfahren ist man geistig abgelenkt, und es ist körperlich anstrengend. Ein Milchwagen ist ungefähr so schnell wie ein Fahrrad, aber man trödelt durch die Gegend wie in einer mobilen Hängematte. Nach der ersten Woche kam es mir vor, als würden wir ein weites, unerschlossenes Land durchqueren, und der Horizont begann sich vor uns auszudehnen. Es war, als würde das Land durch unser langsames Tempo tatsächlich größer werden.
    Damals dachte ich, ich würde langsam verrückt werden, doch als ich wieder zu Hause war, machte mich ein Freund auf eine Abhandlung mit dem Titel »Wie lang ist die britische Küste?« aufmerksam, die 1967 von einem Mathematiker namens Benoît Mandelbrot veröffentlicht worden war. Sie besagt, dass die Intensität einer Reise – was die Wahrnehmung angeht – sie tatsächlich mathematisch gesehen verlängern kann. Die Antwort auf die Frage, die diese Abhandlung stellt, ist, dass es keine Antwort gibt. Es ist ein Paradox, weil die Länge der Küste vollkommen davon abhängig ist, auf welche Weise sie vermessen wird. Alles hängt vom Kon-text ab, und der Kontext, in dem man etwas wahrnimmt, ist eine Funktion des Gehirns.
    Um dieses Paradox zu erklären, muss man zunächst davon ausgehen, dass England eine bestimmte geologische Küstenlinie hat, die wiederum von Ebbe oder Flut und allen möglichen anderen Variablen abhängig ist. Wenn man dieseVoraussetzung akzeptiert hat, muss man sich vorstellen, diese Küste mit einem einen Meter langen Lineal auszumessen. Irgendwann hätte man die Länge der Küste ermittelt. Aber was wäre, wenn man das Experiment mit einem 30 Zentimeter langen Lineal wiederholen würde? Mit dem kürzeren Lineal würde die Strecke länger ausfallen, weil man in diverse Ecken und Winkel hineinkäme, die man mit dem einen Meter langen Lineal hätte übergehen müssen.
    Jetzt denken Sie wahrscheinlich: »Na gut, aber mit einem drei Zentimeter langen Lineal wäre die Strecke noch länger. Das wäre zumindest genau, denn ein kleineres Lineal ginge kaum.« Das Problem ist, dass es natürlich doch ginge. Man kann das Lineal immer kürzer machen und immer mehr ins Detail gehen, und jedes Mal wird die Küstenlinie länger werden. Es gibt also keine definitive Antwort auf die Frage. Das ist ein beunruhigender Gedanke. Wir alle gehen von der Annahme aus, dass die reale Welt dadurch definiert wird, dass sie vermessbar ist, aber wenn man das Ganze genauer betrachtet, steckt der Akt des Messens selbst voller Unwägbarkeiten.
    Natürlich bewegten wir uns in unserem Milchwagen nicht in so winzigen Dimensionen, aber wir reisten »tiefer«, als wir es normalerweise tun. Wir vermaßen diese Tiefe nicht an sich, doch wir nahmen sie in den Dingen wahr, die wir sehen konnten, weil wir die Zeit und den Raum dazu hatten. Beispielsweise rasten die Bäume, die man aus dem Fenster des Milchwagens sah, nicht einfach vorbei, wie man es vom Auto her kennt. Im Vorbeifahren konnten wir die Umrisse jedes Meilensteins, jeder Hecke und jedes Baums deutlich

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