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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Autoren: Dan Kieran
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wurde, auf der Suche nach dem Gleichgewicht, das McGilchrist den Wahrnehmungen und den Schwerpunkten der beiden Hemisphären des Gehirns zuschreibt – wie es die Renaissance verkörperte.
    Ob das heute tatsächlich noch immer zutrifft oder nicht, es steht außer Frage, dass die Perspektive der linken Hemisphäre mit ihrem Bedürfnis nach Ordnung in der westlichen Welt überhandgenommen hat. Während ich dies schreibe, sind die Humanwissenschaften, die während der Renaissance so energisch gefördert wurden, die Bereiche, die an englischen Universitäten die größten Kürzungen an Fördergeldern hinnehmen müssen – eben weil ihr Wert so schwer zu bemessen und zu erklären ist und nicht so einfachbestimmt werden kann wie bei den naturwissenschaftlichen und praktischen Fächern, die der Weltsicht der linken Gehirnhälfte entsprechen. Auch im Hinblick auf das Reisen scheint die Herangehensweise der linken Gehirnhälfte unanfechtbar zu sein. Indem wir die Welt in einen Prospekt planbarer, vorprogrammierter Erfahrungen verwandeln, die unserem Geist nur wenig abverlangen, vergessen wir, welcher Impuls uns überhaupt erst dazu bringt, uns auf den Weg zu machen: das Bedürfnis, unseren Blick auf das eigene Leben neu zu bestimmen, indem wir uns mit dem Unbekannten konfrontieren, und durch diesen Prozess neu zu entdecken, was »Wissen« eigentlich bedeutet.

Kapitel 7
Sei abenteuerlustig
    Anstatt menschliche Wesen zu sein, sind wir zu menschlichen Handelnden geworden. Drosselt das Tempo, ihr werdet weiter kommen, als ihr euch jemals vorgestellt habt.
    Satish Kumar, No Destination
    Vor einigen Jahren war ich in den Uffizien in Florenz, um mir zwei Renaissancegemälde anzuschauen, das Doppelbildnis des Herzogs und der Herzogin von Urbino von Piero della Francesca, die ich bereits gesehen hatte, als Henry und ich im Alter von 19 Jahren dort waren. Ich bin kein religiöser Mensch, aber diese Bilder sind für mich zu so etwas wie einem Wallfahrtsort geworden. Nicht deshalb, weil ich ein großer Fan der Bilder selbst bin, über die ich nur wenig weiß, sondern weil ich mir vorgenommen habe, sie alle zehn Jahre zu besuchen.
    Das erste Mal bin ich auf Piero della Francescas Meisterwerk aufmerksam geworden, als ich es bei meinem ersten gescheiterten Anlauf, die Universität zu besuchen, als Schwarzweiß-Diaprojektion an der Wand eines Seminarraums im Institut für Kunstgeschichte gesehen habe. Der Raum war zu klein für die vielen Studenten, und die Dozentin tat ihr Bestes, um uns das Bild auf der provisorischenLeinwand nahezubringen, aber es blieb eine rein »phonetische« Erfahrung. Außerdem hatte sie nur ein Dia des Herzogs, die Herzogin fehlte. Einige Wochen später verließ ich die Universität. Doch ein Satz der Dozentin blieb mir im Gedächtnis – nämlich dass die eigene Reaktion auf ein Bild einem mehr über sich selbst erzählt als über das Kunstwerk.
    Als ich zwölf Monate später mit Henry vor den beiden Bildern stand, lächelte ich mit Kennermiene. Ich hatte einige anstrengende Jobs annehmen müssen, um das Geld für die Reise zu verdienen, aber es hatte sich gelohnt. Dadurch, dass ich das Seminar sausen gelassen hatte und stattdessen der Eingebung gefolgt war, mir die Bilder selbst anzuschauen, erhielten sie eine Bedeutung, die der Künstler niemals beabsichtigt hatte. Es klingt anmaßend (ich war schließlich erst neunzehn), aber ich hatte das Gefühl, als ob der Prozess, der dazu geführt hatte, dass ich jetzt vor diesen Bildern stand, mich offen für die Kunst des Lebens gemacht hatte. Ich war voller Erwartungen, wie mein Leben sich entwickeln und wer ich werden würde. Henry und ich waren auf einem Campingplatz auf einem Hügel vor der Stadt untergekommen. Ich hatte einen Rucksack dabei, versuchte mir einen Bart stehen zu lassen und trug ein Notizbuch mit mir herum, in das ich Unmengen von schrecklichen Gedichten schrieb. Die Absicht, auf eine höhere Bildung zu verzichten, wurde von meinem engeren Umfeld missbilligt, aber vor diesen Bildern zu stehen gab mir die Gewissheit, dass ich die rich-tige Entscheidung getroffen hatte. Es war ein Moment des Triumphs. Beim Hinausgehen schwor ich mir, dass ich im Lauf meines Lebens immer wieder zurückkommen und sie mir ansehen würde, um mich daran zu erinnern, meinem Instinkt zu folgen, anstatt einen vernünftigen Weg einzuschlagen, der angebliche Sicherheit versprach.
    Bei meinem zweiten Besuch zwölf Jahre später war ichfür eine Zeitung unterwegs, Rachel und Wilf,
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