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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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früher die Namen aller Abgebildeten herunterbetete, hatte er ihr jetzt schon zweimal auf diese Weise erklärt. »Das da ist hier, und das da ist dort.«
    Sie waren auf dem Weg in die Universitätsklinik, wo mit Konrad in den letzten Tagen verschiedene klinische Untersuchungen gemacht worden waren. Es ging um eine diagnostische Bestandsaufnahme. Als Entscheidungsgrundlage für die Ethik-Kommission und um zu Vergleichswerten für die Behandlung zu kommen.
    Die psychologischen Tests, die sie im Gästehaus durchgeführt hatten, waren abgeschlossen. Die Elektroenzephalographie hatte er hinter sich, ebenso die Durchblutungsmessungen aller Hirnareale.
    Heute fuhren sie zur letzten Untersuchung, der Computertomographie.
    Konrad hatte alle Untersuchungen entweder gleichgültig oder amüsiert über sich ergehen lassen. Auch jetzt ließ er sich brav auf die Liege helfen, zudecken und in den Zylinder des Tomographen schieben.
    Als dieser sich drehte, erst langsam, dann schneller, immer schneller, schlief Konrad ein.
    Er schlief auch noch, als man die Liege aus dem Tomographen herauszog.
    »Herr Lang?« rief die Assistentin.
    »Herr Lang?« rief Dr. Kundert.
    Konrad reagierte nicht. Kundert schüttelte ihn sanft. Dann etwas heftiger.
    »Guten Morgen, Herr Lang«, sagte er jetzt ziemlich laut.
    Konrad schlug die Augen auf. Dann riß er die Decke weg und schaute seine nackten Füße an. »Das habe ich genau gewußt«, stieß er hervor. »Drei Zehen.«
    Er sprang von der Liege und landete so unglücklich, daß er sich das linke Schien- und Wadenbein brach.
    »Das ist wirklich Pech. Der Ärmste!« sagte Elvira Senn, als ihr Dr. Stäubli während seiner Untersuchung von Konrad Langs Unfall berichtete. Es klang nicht sehr teilnahmsvoll, eher interessiert. »Ist es schlimm?«
    »Der Bruch an sich ist nicht kompliziert. Aber es ist ein schwerer Rückschlag für einen Alzheimerpatienten, wenn er bettlägerig wird. Er muß auf die Gymnastik verzichten, seine Beweglichkeit und Koordinationsfähigkeit leiden, die Gefahr von Komplikationen wie Kreislaufschwächen, Embolien, Muskelschwund, Knochenentkalkung steigt.«
    »Es beschleunigt den Verlauf der Krankheit?«
    »Die Gefahr ist groß.« Er schrieb in ihrem Krankenblatt.
    »Für ihn ist es wohl besser so.«
    Dr. Stäubli schaute auf. »Warum glauben Sie das?«
    »Das ist doch kein Leben.«
    Er überlegte einen Moment. »Ich weiß es nicht. Vielleicht kommt das nur uns so vor. Vielleicht lebt er in einer Welt, von der wir alle keine Ahnung haben. Vielleicht ist das das eigentliche Leben.«
    »Das glauben Sie nicht im Ernst.«
    Dr. Stäubli zuckte die Schultern. »Ich möchte es jedenfalls nicht entscheiden müssen.«
    Kundert und O’Neill beschlossen, vorsichtshalber den Unfall gegenüber der Ethik-Kommission nicht zu erwähnen, die in zwei Tagen unter anderem über den »Antrag Dr. Kundert« entscheiden sollte.
    Der Zwischenfall in der Tomographie hatte auch seinen positiven Aspekt: Die Krankengeschichte von Konrad Lang, mit der Dr. Wirth widerwillig und in drei Etappen herausgerückt war, erwähnte einen ähnlichen Vorfall während der ersten Computertomographie vor etwas über einem Jahr. Auch damals hatte der Patient den Vorgang mit dem Verlust seiner drei Zehen in Zusammenhang gebracht.
    »Das heißt erstens, daß er noch vor einem Jahr etwas Neues gelernt hat«, erklärte Dr. Kundert Simone Koch, »und zweitens, daß es im episodischen Gedächtnis gespeichert ist und durch die gleiche Episode abgerufen werden konnte.«
    »Und ist das ein gutes Zeichen?«
    »Möglicherweise ist dieser Bereich des Gehirns also noch nicht so weit zerstört, daß er sich nicht mehr stimulieren ließe.«
    Diesen Aspekt des Zwischenfalls beschlossen Kundert und O’Neill gegenüber der Ethik-Kommission herauszustreichen.
    Als Simone Konrad am Tag vor der Entscheidung der Kommission besuchte, brachte sie neue Fotos mit.
    Er lag in seinem Spitalbett und starrte auf sein eingegipstes Bein, das an einer Art Flaschenzug von einem Gestänge über dem Bett hing. Als sie ihm die Bilder zeigte, auf denen die beiden Buben mit Elvira auf Reisen abgebildet waren, schien er nicht sonderlich interessiert.
    Er sah sich als Kind auf dem menschenleeren Markusplatz in Venedig neben Thomas und Elvira stehen, um sie herum ein paar Dutzend Tauben. Den kurzen Schatten nach mußte es Mittag sein. Im Hintergrund die leeren Tische vor den Arkaden der Cafés, deren Markisen alle herabgelassen waren, damit dahinter die

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