Small World (German Edition)
Schlafzimmer. Das Zimmer war verdunkelt, und Konrad Lang war nur als Umriß auf dem helleren Hintergrund des Bettes zu erkennen. Er rührte sich nicht, aber sie wußte, daß er wach war. Wenn Konrad Lang auf dem Rücken schlief, wie jetzt, wo das mit dem Gips nicht anders möglich war, dann schnarchte er. Aber über den Lautsprecher war kein Schnarchen zu hören. Nur der flache Atem und das tiefe Luftholen eines, der wach lag in der Nacht.
Schwester Ranjah stand von ihrem Stuhl auf und ging leise die Treppe hinunter. Vorsichtig drückte sie die Klinke seiner Schlafzimmertür runter. Als sie im Raum stand, merkte sie, wie er den Atem anhielt.
»Herr Lang?« flüsterte sie. Keine Reaktion. Sie ging an sein Bett.
»Herr Lang?«
Konrad Lang rührte sich nicht. Jetzt war Schwester Ranjah beunruhigt. Sie suchte nach dem Schalter, der neben der Klingel am Haltegriff hing, und machte Licht.
Konrad Lang preßte die Hände vor die Augen.
»Ich habe kein Licht gemacht, Mama Anna«, flehte er.
»Mama Anna isn’t here«, sagte Schwester Ranjah und nahm ihn in die Arme.
Beim Übergabegespräch am nächsten Morgen berichtete Schwester Ranjah Schwester Irma vom Zwischenfall. »Sagen Sie dem Doktor, die Teufel der Vergangenheit lassen ihn nicht schlafen.«
Später schauten sich Dr. Kundert und Simone die Aufzeichnung des Zwischenfalls an.
»Warum hatte er wohl Angst vor dem Licht?« fragte Simone.
»Er hatte keine Angst vor dem Licht. Nur davor, Licht zu machen. Weil Mama Anna es ihm verboten hat. Er fürchtet sich nicht vor dem Licht. Er fürchtet sich vor Mama Anna.« Dr. Kundert spulte das Video zurück. Bis zur Stelle, wo Konrad Lang sich die Augen zuhielt und flehte: »Ich habe kein Licht gemacht, Mama Anna.«
»Mama Anna«, wiederholte Simone. »Haben Sie eine Ahnung, weshalb er sie Mama Anna und Mama Vira nennt?«
»Kindersprache«, vermutete Kundert.
»Oder vielleicht: Zwei gleichaltrige Kinder, und beide nennen ihre Mütter Mama. Das gibt doch ständig Verwechslungen. Deshalb Mama Anna und Mama Vira.«
Eine Woche später kam die Zusage der Ethik-Kommission für die Aufnahme des Patienten Konrad Lang, siebenundsechzig, in die Testanlage POM 55 für eine einmalige Anwendung. Dr. Kundert konnte es kaum erwarten, es Simone mitzuteilen.
Aber Simone hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Urs hatte darauf bestanden, Dr. Spörri zu rufen. Dieser war noch vor Öffnung seiner Praxis vorbeigekommen und hatte ihr Bettruhe verordnet. Sie war in der achtzehnten Woche, und die Übelkeit am Morgen war schlimmer denn je. Es begann jetzt mitten in der Nacht, das Bett fing an, sich zu drehen. Manchmal mußte sie schon um drei Uhr aufstehen und sich übergeben.
»Da ist doch etwas nicht in Ordnung«, sagte Urs immer wieder. Er war es gewohnt, daß man seine Einwände ernst nahm.
Dr. Spörri beruhigte ihn: »Erbrechen und Schwindel gehören zu einer gesunden Schwangerschaft. Aus Studien wissen wir, daß die Babys von Frauen, die darunter gelitten haben, in der Regel mehr wiegen und pünktlicher zur Welt kommen.«
Trotzdem verordnete er Simone Bettruhe. Mehr zur Beruhigung des Ehemannes als aus medizinischer Notwendigkeit.
Candelaria, die Haushälterin, hatte strikte Anweisung, Telefongespräche und Besucher von seiner Frau fernzuhalten.
»Aber es ist sehr wichtig«, insistierte Dr. Kundert.
»Wenn Doktor sagt nein, ist nein«, antwortete Candelaria. »Sie sind doch auch Doktor.«
So mußte er sich bis zum Nachmittag gedulden, als Simone sich besser fühlte und trotz des Protestes von Candelaria ins Gästehaus hinüberging.
»Es kann losgehen«, bemerkte Kundert beiläufig, als sie das Stationszimmer betrat, das mehr und mehr zu einem Überwachungsraum umfunktioniert worden war.
Simone dachte zuerst, er beziehe sich auf den Bildschirm, auf dem zu sehen war, wie sich der Physiotherapeut mit dem apathischen Konrad im Bett abmühte. Erst als sie bemerkte, wie er schmunzelnd auf ihre Reaktion wartete, begriff sie.
»Sie haben grünes Licht gegeben?«
»Morgen kommt O’Neill mit dem POM 55. Übermorgen kann es losgehen.«
»So rasch geht das?«
»Mit jedem Tag, den wir warten, gehen mehr Zellen verloren.«
Simone setzte sich an den Tisch, auf dem Kaffeetassen und ein Thermoskrug standen. Sie hatte sich verändert in den letzten Monaten. Sie benützte weniger Schminke und kleidete sich nicht mehr so adrett. Ihr Stil war etwas praktischer, ihre Mode etwas klassischer geworden. Ihre Züge hatten an Fraulichkeit
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