Small World (German Edition)
Schultern. »Und die Zuckerwerte?«
Elvira zeigte auf den Schminktisch. Dort lagen die Tabellen für ihre Blutzucker-, Urinzucker- und Ketonkörperwerte. Stäubli studierte sie.
»Die Schwankungen sind innerhalb der Toleranzgrenzen.«
»Ich kann nur sagen, wie ich mich fühle«, gab Elvira kühl zurück. »Sie sagen immer, die selbstgemessenen Werte seien ungenau.«
Dr. Stäubli begann, in seinem Arztkoffer zu kramen.
»Was ist mit Dr. Wirth?«
»Ich werde ihn selbst fragen.«
»Halten Sie mich auf dem laufenden.« Elvira wandte das Gesicht ab, als Dr. Stäubli sie in die Fingerkuppe stach und einen Blutstropfen auf den Teststreifen strich.
Zwei Tage später stand Dr. Kundert auf der Straße.
Stäubli hatte sich bei Wirth erkundigt, was genau Kunderts Aufgabe bei Konrad Lang sei. Wirth hatte von Kundert schon gehört. Er galt als großes Talent im Team von Professor Klein, dem Chefarzt für Geriatrie im Magdalenaspital.
Dieser reagierte auf Wirths Anfrage überrascht und zitierte Kundert.
Kundert stand ihm einigermaßen tapfer und relativ ehrlich Rede und Antwort. Das Gespräch dauerte zehn Minuten. Dann hatte Kundert die fristlose Entlassung in der Tasche. Grund: grobe Verletzung des Anstellungsvertrags. Wogegen juristisch nichts einzuwenden war.
Jetzt saß er, noch gebeugter als sonst, bei Simone. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als eine Stelle zu suchen, und zwar möglichst weit weg. Der Arm des Professors ist lang.«
»Könnten Sie sich vorstellen, sich als Mitglied des Pflegeteams fest anstellen zu lassen?« erkundigte sich Simone. »Wenigstens vorübergehend. Bis Sie eine Lösung gefunden haben.«
»O’Neills Chef wird mir den Test nicht geben. Wahrscheinlich hat er genau in diesem Moment den tobenden Professor Klein am Draht und muß es ihm schwören.«
»Trotzdem.«
»Was haben Sie davon, wenn wir den Test doch nicht machen können?«
»Ich muß das Gesicht von Wirth nicht mehr sehen.«
Kundert lächelte. »Das ist allerdings ein Grund.«
Ein Spitalarzt verdient zwar kein Vermögen, aber zuviel für das Budget, über das Simone für Konrad Lang verfügte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Urs zu sprechen.
»Du bist sicher, daß es dich entlasten würde?«
»Ganz sicher. Der Mann stünde vollamtlich zur Verfügung.«
»Was meint Elvira dazu? Die Sache läuft schließlich über ihr Konto.«
»Ich wäre froh, wenn wir nicht jedes Problem meiner Schwangerschaft mit ihr besprechen müßten.«
Der überraschende Aspekt, daß es sich bei der Festanstellung eines Neuropsychologen für einen ungeliebten Hausfreund um die Lösung eines Schwangerschaftsproblems seiner Frau handelte, überzeugte Urs Koch. Dr. Peter Kundert wurde mit sofortiger Wirkung eingestellt. Aus buchhalterischen Gründen als Werksarzt der Koch-Werke, aber intern hundertprozentig freigestellt für die Betreuung des Patienten Konrad Lang.
Genau dieser buchhalterische Kunstgriff war es, der der Forschungsleitung des Pharmaunternehmens, bei dem Ian O’Neill tätig war, die Legitimation gab, Dr. Kundert, den Werksneuropsychologen eines Schweizer Mischkonzerns, in die klinischen Tests von POM 55 mit einzubeziehen.
Die Argumente des kämpferischen Dr. O’Neill und eine in den letzten Jahren immer heftiger gewordene Abneigung des Forschungsleiters gegenüber dem großspurigen, eingebildeten Professor Klein vom Magdalenaspital taten ihr übriges.
9
»Wie uns das hier so hinüberzieht«, sagte Konrad Lang. Simone Koch versuchte ihn zu verstehen. Sie saßen im Fond von Dr. Kunderts Wagen und fuhren in einer Kolonne die Waldstraße hinauf zur Klinik.
Konrad erklärte es ihr. »Wenn das fährt, fahren wir auch. Und wenn es steht, stehen wir auch.« Er zeigte auf die Autos vor ihnen.
Jetzt verstand Simone. »Du meinst, wie ein Zug.«
Konrad schüttelte den Kopf. »Das hier, meine ich. Wie uns das hier hinüberzieht.«
Simone hatte sich daran gewöhnt, daß Konrad Dinge sah, die ihr verborgen blieben. Oder Dinge ganz anders sah als sie. Er konnte zum Fenster blicken und sagen: »Da hing früher ein anderes.« Das hieß dann, daß er das Fenster als Bild an der Wand betrachtete.
Es konnte aber auch passieren, wenn er ein Foto erklärte, daß er mit Händen und Füßen beschrieb, was darauf oben, unten, Vorder- und Hintergrund war. Weil er glaubte, sie würde die drei Dimensionen nicht begreifen. In letzter Zeit geschah dies öfter, und es beunruhigte sie alle. Das Foto auf dem Raddampfer, bei dem er
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