Small World (German Edition)
vernünftigeren Menschen von der Mittagssonne unbehelligt speisen konnten.
Bei einigen Bildern wußte Konrad, wo sie aufgenommen waren. »Venedig«, sagte er, oder: »Mailand.« Und bei allen erkannte er: »Tomi, Koni und Mama Vira.«
»Mama Vira?«
»Mama Vira.«
Er sah sich an einem menschenleeren Sandstrand mit Tomi im Schatten eines gestreiften Sonnensegels eine Sandburg bauen. Im Hintergrund eine Reihe ebenfalls gestreifter Strandkabinen. Genau an der Stelle, wo der Schatten des Segels endete, saß in einem Liegestuhl Elvira in einem züchtigen Badeanzug. Neben ihr ein zweiter, leerer Stuhl.
»Tomi, Koni und Mama Vira.«
»Wo?«
»Am Meer.«
Auf der letzten Seite waren drei Fotos. Das eine zeigte den Ausschnitt eines dunklen Schiffsbauches, zwei Reihen Bullaugen und das Muster der groben Nieten der Außenhaut. Eine weiße Gangway mit der Aufschrift »Dover« ragte in das Innere des Schiffes, wo im Halbdunkel die weiße Hemdbrust eines wahrscheinlich uniformierten Mannes auszumachen war.
Das zweite Foto zeigte noch einmal die gleiche Gangway von näher. Im Hintergrund der Uniformierte, im Vordergrund, mit dem Rücken zum Schiff, Elvira und Thomas, die in die Kamera winkten.
Das dritte Foto war es, das Konrad aufwühlte. Es zeigte die Gangway in umgekehrter Richtung. Im Hintergrund ein Teil eines Hafengebäudes, ein paar winkende Menschen in Hüten und Mänteln, im Vordergrund, auf der Gangway, eine Frau und ein Mann. Man sah seinen lächelnden schmalen Mund, seine Augen waren von der Krempe eines weichen Filzhutes mit breitem Band umschattet. Er trug einen offenen Tweedmantel über einem dreiteiligen Flanellanzug, ein helles Hemd und eine gestreifte Krawatte. Sein Mantelkragen war hochgeschlagen, seine linke Hand steckte in der Tasche, die so hoch angesetzt war, daß er den Arm abwinkeln mußte.
Es war nicht zu erkennen, ob er den rechten Arm herunterhängen oder um die Taille der Frau neben ihm gelegt hatte. Sie war gleich groß wie er und lächelte herausfordernd in die Kamera. Eine kleine Pelzmütze saß verwegen auf ihrem Pagenschnitt. Sie trug ein grobes Tweedkostüm mit zur Mütze passendem Pelzkragen, einen Pullover mit feinen Querstreifen und einen langen Schal mit Kaschmirmuster. Über der rechten Schulter hing eine Tasche an einem langen Riemen.
»Mama Anna«, stieß Konrad verächtlich hervor und wischte mit einer heftigen Bewegung die Laserkopien vom Bett.
Als Simone das Bild später genauer studierte, glaubte sie eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Frau und Sophie Berger, der entlassenen rothaarigen Aushilfsschwester, festzustellen.
Koni mußte im Dunkeln im Bett liegen, obwohl er Angst im Dunkeln hatte. Er durfte nicht rufen, und er durfte auch nicht aufstehen.
Sonst holten ihn die schwarzen lauten Männer mit den weißen Augen, die die Kohle brachten. Die kamen mit vollen schwarzen Säcken in den Keller des Hotels und gingen mit leeren schwarzen Säcken wieder hinaus. Einmal sah er, wie einer von ihnen mit einem Sack wieder hinausging, der noch halb voll war. Er fragte Mama Anna, was in dem Sack sei. »Solche wie du, die nicht gehorchen.«
»Was machen die mit denen?«
»Was denkst du, was die mit denen machen?«
Koni wußte es nicht, aber er malte sich das Schlimmste aus.
Das Schlimmste wäre, wenn er immer in dem schwarzen Sack bleiben müßte. Immer im Dunkeln.
Koni hatte früher nie Angst gehabt vor der Dunkelheit. Erst, seit sie in London waren. In London ertönten manchmal plötzlich Sirenen, und dann wurde es dunkel. Sie übten für den Krieg, hieß es, und er sah den Leuten an, daß sie auch Angst hatten.
Eigentlich hatte er Angst vor den Sirenen, aber weil die Dunkelheit mit den Sirenen zusammenhing, hatte er auch Angst vor der Dunkelheit.
Koni konnte sich also entscheiden zwischen der Angst vor der Dunkelheit und der Angst, daß er mit brennendem Licht erwischt wurde. Es war vorgekommen, daß er sich für letzteres entschieden und Licht gemacht hatte. Deswegen hatte ihn Mama Anna jetzt mit dem Bein ans Bett gefesselt.
Er konnte sie nebenan hören mit dem Mann, der ihn nicht sehen durfte. Wenn der Mann ihn sah, kam Koni in den Sack.
Früher waren auch Männer gekommen und geblieben. Aber die durften ihn sehen. Denen durfte er gute Nacht sagen, und dann ab ins Bett. Die brachten ihm manchmal etwas mit. Aber dieser durfte ihn nicht sehen.
Deswegen war er im Dunkeln angebunden.
Schwester Ranjah saß im Stationszimmer und beobachtete den Monitor von Konrads
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