Small World (German Edition)
Backe.
Sofort kamen ihm die Tränen.
»’tschuldigung, ’tschuldigung, aber nicht machen Rock hoch, Herr Lang«, jammerte Svaja Romanescu, als Schwester Irma hereinkam, die den Vorfall am Monitor beobachtet hatte.
»Wir schlagen Patienten nicht, auch wenn sie schmutzige alte Männer werden.«
Eine der Neuerungen, die Dr. Kundert eingeführt hatte, war die Aufzeichnung der Monitorüberwachung. Es gab zwei Sätze Bänder für jeweils vierundzwanzig Stunden, die alternierend überspielt wurden, falls nichts Besonderes vorgefallen war. So hatte er die Möglichkeit, Beobachtungen, die das Pflegepersonal während seiner Abwesenheit gemacht hatte, zu studieren. Etwas, das vor allem im Hinblick auf die bevorstehende Behandlung mit POM 55 nützlich war, mit der sie alle fest rechneten. Seine Besuchszeiten waren sehr unterschiedlich, weil er unverändert im Magdalenaspital Dienst tat. Er wollte die Entscheidung des Pharmaunternehmens abwarten, ob sie dem Test unter diesen Umständen und in dieser Besetzung zustimmten. Erst dann wollte er seinen Professor informieren und die Kündigung einreichen.
Dr. Wirth war auch nicht eingeweiht, aber da seine Besuche sich nach einem genauen Stundenplan richteten, war es einfach, eine Begegnung der beiden Neurologen zu vermeiden.
Auch Dr. Stäubli ging Kundert auf Simones Wunsch vorläufig noch aus dem Weg. Auf die Diskretion des Hausarztes seiner alten Patientin Elvira gegenüber wollte sie sich nicht verlassen. Aus diesem Grund achtete sie auch darauf, daß er nichts von ihren Fotositzungen mit Konrad erfuhr.
Simone und Dr. Kundert schauten sich mit Schwester Ranjah die Aufzeichnung der Szene am Monitor an. Konrad Lang, wie er bewegungslos im Sessel saß, den Kopf hob und lächelte. Svaja Romanescu, wie sie mit dem Staubsauger am linken Bildrand sichtbar wurde. Wie sie das Klubtischchen wegschob, wie sie unter dem Sofa saugte, wie sie sich bückte und wie ihr Koni mit großer Selbstverständlichkeit den Rock hochhob und dafür eine Ohrfeige fing.
»Es entspricht einfach nicht seinem Charakter«, wunderte sich Simone.
»Daß sich der Charakter eines Patienten ändert, ist nicht ungewöhnlich bei Alzheimer.«
»Es sind die Fotos«, ließ sich Schwester Ranjah vernehmen. »Die Fotos, die Sie mit ihm anschauen, da war er in einem Alter, wo Buben so sind.«
»Wäre das eine Erklärung?« fragte Simone.
»Die Patienten leben oft sehr intensiv in der Vergangenheit. Wenn Konrad Lang in dem Zeitabschnitt lebt, in dem er sich in der Pubertät befand, ist die Theorie nicht abwegig. Darf ich die Fotos einmal sehen?« bat Dr. Kundert.
Schwester Ranjah schaute Simone fragend an. Als diese nickte, ging sie aus dem Zimmer und kam mit dem Stapel Kopien aus dem Album zurück, das aus der Zeit des »St. Pierre« stammte. Die anderen bewahrte Simone in ihrem Zimmer auf.
Kundert schaute sich die Bilder an. »Nicht die schlechteste Zeit im Leben eines Mannes«, bemerkte er schließlich. »Wenn alles gutgeht, haben wir Erfolg, bevor er auch daran die Erinnerung verliert.«
Simone war sich nicht so sicher, ob das gelingen würde. Schon in den nächsten Tagen glaubte sie Anzeichen dafür zu entdecken, daß Konrads Interesse an diesen Bildern nachließ. Auch die Namen seiner Mitschüler und die Umstände, unter denen die Fotos gemacht worden waren, waren ihm nicht mehr so geläufig. Viele von Konrads Reaktionen, die Art, wie er mitten in einem seiner Lieblingsthemen den Faden verlor oder wie er abschweifte, wenn sie seine Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Bild lenken wollte, kamen ihr bekannt vor. Genauso war es gewesen, als er begonnen hatte, das Interesse an Thomas’ Fotos aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren zu verlieren.
Wie wenn sie nicht schon genug Probleme mit anderen Leuten hätte, stellten sich jetzt auch noch bei ihr welche ein: Die ersten drei Monate ihrer Schwangerschaft waren ohne die Nebenerscheinungen abgelaufen, über die andere Frauen häufig klagten: Übelkeit und Erbrechen am Morgen, plötzliche Schwindelanfälle den Tag über. Aber jetzt, im vierten Monat, wo diese Symptome normalerweise verschwanden, fingen sie bei Simone erst an.
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, hatte ihr Frauenarzt gesagt.
»Sagen Sie das meinem Mann«, hatte sie geantwortet.
Urs Koch hatte sie anfänglich durch seine übertriebene Fürsorge gerührt, aber jetzt ging er ihr damit auf die Nerven. Jedesmal, wenn sie nachts aufstand, fragte er: »Bist du okay, Schatz?«, und wenn sie
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