Small World (German Edition)
Nummer des Spitals von Bellinzona erfahren und den diensthabenden Notfallarzt am Apparat. Gerade als er bei überhöhter Geschwindigkeit auf der Überholspur am Autotelefon die Details der Symptome durchgab und den Arzt über die Bedeutung der Patientin informierte, flog das letzte Schild der Ausfahrt nach Bellinzona Süd an ihm vorbei. Er trat auf die Bremsen, riß das Steuer nach rechts, merkte, daß er einem Lastwagen auf der rechten Spur den Weg abschnitt und gab Gegensteuer. Der Daimler brach aus, flog auf den Mittelstreifen, durchbrach beide Leitplanken, überschlug sich mehrmals, verfehlte einen entgegenkommenden Lieferwagen um Haaresbreite und kam auf dem Pannenstreifen der Gegenspur zum Stehen. Kühler in Fahrtrichtung, aber Räder in der Luft.
Zwei Stunden nach Eintreffen der Todesnachricht erklärte Urs Koch seiner Frau Simone die juristische Lage, wie sie ihm Fredi Zeller auseinandergesetzt hatte. Er hatte sich geweigert, die Besprechung im Gästehaus zu führen. Sie hatte schließlich eingewilligt, in die Villa zu kommen, aber auf ihrem »Laura-Ashley-Zimmer« bestanden.
Er war sehr bestimmt und dynamisch aufgetreten, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß die roten Augen nicht von den Tränen um Elvira herrührten.
Sie hörte seinen Ausführungen ruhig zu und ließ ihn geschäftsmäßig rekapitulieren. Erst als er sagte: »Du siehst: Juristisch ist der Fall erledigt«, fragte sie: »Und menschlich?«
»Menschlich ist er natürlich tragisch. Für alle Beteiligten.«
»Du weißt gar nicht, wie tragisch, wenn ich mit euch fertig bin.«
Urs kniff sich in den Nasenrücken. Sein Kopf tat weh. »Womit drohst du jetzt?«
»Veröffentlichung.« Simone stand auf. »Du wirst jedes Detail dieser schäbigen Geschichte in jedem Käsblatt und jedem Sender des Landes und der halben Welt so oft zu hören und zu lesen bekommen, bis du dich vor dir selbst ekelst.«
»Was willst du?«
Simone setzte sich wieder.
Erst eine Woche nach Elvira Senns Tod fand die Trauerfeier statt. So viel Zeit war, mit Rücksicht auf die Agenden der Crème aus Wirtschaft, Politik und Kultur erforderlich gewesen, um der Trauerfeier den angemessenen Rahmen zu verleihen.
Auf dem Platz vor dem Münster drängten sich ernste Menschen in feierlicher Kleidung. Die meisten kannten sich. Sie nickten sich stumm zu. Wenn sie sich die Hand gaben, taten sie es unerfreut, damit man nicht denken mochte, Elvira Senns Schicksal lasse sie kalt.
Man stand in kleinen Grüppchen beisammen und unterhielt sich mit gedämpfter Stimme. Ein paar Beamte der Stadtpolizei sorgten dafür, daß man unter sich blieb.
Mitten in die Betretenheit hinein hoben die schweren Münsterglocken an zu läuten. Langsam setzte sich die Trauergemeinde in Bewegung und trieb auf die Kirche zu. An der Pforte staute sie sich kurz und verteilte sich dann über die harten Bänke als tuschelnde, hüstelnde und schneuzende Gemeinde, die gefaßt den nächsten anderthalb Stunden entgegensah.
Von zwei Richtungen her füllten sich die Reihen: von vorn mit Angehörigen, Freunden, Bekannten; von hinten mit Geschäftsbeziehungen, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Presse. Als beides sich in der Mitte des Schiffes vermischt hatte und zusammengewachsen war, begannen sich die Gänge mit den Eiligen zu füllen, die nahe bei den Ausgängen bleiben wollten, damit sie danach keine Zeit verloren.
Während man in aller Form und Würde der Verstorbenen gedachte und auch Schöller nicht unerwähnt ließ, der beim Versuch, Elvira zu retten, sein Leben geopfert hatte, starrten die, die weiter vorn saßen, ins Blumenmeer und versuchten die Inschriften der Seidenschleifen zu entziffern. Die anderen hingen ihren Gedanken nach.
Niemand außer Dr. Stäubli wußte von den sechs Insulinampullen ›U 100‹, die im Kühlschrank von Elvira Senn gefehlt hatten.
Zu den wuchtigen, ermutigenden Orgelklängen und unter den teilnehmenden Blicken der Gemeinde verließen die Hinterbliebenen das Münster durch den Mittelgang. Ungefähr eine Stunde dauerte es, bis sich der zähe Strom der Trauergäste an Thomas, Urs und Simone Koch vorbeikondoliert hatte.
Als Simone endlich den Münsterplatz verließ, brach die Sonne durch die Wolken. Der Frühling machte sich bemerkbar, die Welt ging daran, Elvira Senn zu vergessen.
Als Simone vom Leichenmahl zurückkam (ihre Anwesenheit dort war ebenfalls Teil der Vereinbarung mit den Kochs), hielt die Beschäftigungstherapeutin eine Überraschung für sie
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