Small World (German Edition)
bereit.
»Kommen Sie, Herr Lang hat ein Geschenk für Sie.«
Simone legte den Mantel ab und ging ins Wohnzimmer, wo Konrad neuerdings wieder einen Teil seiner Zeit verbrachte und seit Schwester Ranjahs Lebensrettung mit den Honigmandeln auch seine Mahlzeiten einnahm. Jetzt saß er am Tisch und malte.
Die Therapeutin nahm ein Blatt vom Tisch und hielt es Simone hin.
Es war das graublaue Aquarell mit dem Titel »Haus für SchneeSchneebälle im Mai«. Aber jetzt stand darunter noch: »Für Simone«.
Simone war gerührt. Weniger über Konrad als über die Therapeutin, die ihm den Namen diktiert hatte, um sie nach der Trauerfeier etwas aufzumuntern.
»Danke vielmals, Koni, das ist wunderschön. Wer ist Simone?«
Koni schaute sie an mit seinem mitleidigen Blick. »Das bist doch du.«
Am nächsten Tag war O’Neill da. Drei Stunden lang studierte er mit Kundert das Videoband zu jener Therapiesitzung; dann war auch er überzeugt, daß die Beschäftigungstherapeutin nicht geschummelt hatte.
Das aber bedeutete: Konrad Lang hatte einen neuen Namen gelernt und sich daran erinnert.
Am Nachmittag, zur üblichen Zeit, machte Simone mit Konrad eine Fotositzung. Diesmal mit allen vier Alben. Auch den dreien, auf die er schon lange nicht mehr reagiert hatte.
Jegliche Erinnerung an die dort abgebildeten Szenen seines Lebens war ausgelöscht.
Aber als sie zum letzten Album kam und auf das erste Bild – die junge Elvira im Wintergarten – zeigte, sagte er vorwurfsvoll: »Fräulein Berg. Gestern hast du es noch gewußt.«
An diesem Abend feierte die Belegschaft des Gästehauses eine Party. Luciana Dotti kochte sechs verschiedene Pastas, und Simone ging in den Weinkeller der Villa und kam mit acht Flaschen Brane-Cantenac 1961 zurück, einer Rarität, die noch Edgar Senn eingekellert hatte.
»Auf POM 55«, rief Ian O’Neill immer aus, wenn Luciana nachschenkte.
»Wenn es nicht das Insulin war«, grinste Peter Kundert jedesmal.
»Oder die Honigmandeln«, ergänzte Schwester Ranjah.
Peter Kundert ging als letzter. Als Simone ihn zur Tür brachte, küßten sie sich.
Konrad Lang fehlten zwar ganze Abschnitte seines Lebens, aber mit intensivem Training gelang es stückchenweise, sein altes Wissen neu zu organisieren und seinen Bezug zur Realität wiederherzustellen.
Er mußte wieder lernen, Bewegungsabläufe zu beherrschen, zuerst einfache, dann immer komplexere.
Nach einigen Monaten konnte er ohne Hilfe aufstehen und sich waschen, rasieren und anziehen. Wenn auch letzteres nicht immer ganz passend.
Je mehr er lernte, desto mehr kam von selbst zurück. Es war, wie sich das O’Neill und Kundert in ihren kühnsten Träumen erhofft hatten: Allein dadurch, daß die Krankheit gestoppt war, wurden die Hirnzellen stimuliert und stimulierten sich gegenseitig, bildeten neue Kontakte zu längst stillgelegten Hirnteilen, die auf diese Weise plötzlich wiedererweckt wurden.
Vieles blieb verschüttet, aber immer wieder tauchten Erinnerungen an die Oberfläche, wie Korken, die tief unten im Tang seines Gedächtnisses verheddert gewesen waren.
Das Gästehaus der »Villa Rhododendron« wurde zum Zentrum des Interesses der internationalen Alzheimerforschung. Und Konrad Lang ihr unbestrittener Star.
Im Juni wurde die Ehe zwischen Simone und Urs Koch geschieden.
Im Juli brachte Simone ein gesundes Mädchen zur Welt, das sie Lisa taufte.
Im September, an einem der letzten schönen Sommerabende – es roch nach frisch gemähtem Rasen, und weit unten am See glitzerten unternehmungslustig die Lichter der Vororte –, setzte sich Konrad Lang im Wohnzimmer des Gästehauses aus einer Eingebung heraus ans Klavier. Er öffnete den Deckel und machte einen Anschlag mit der rechten Hand. Er spielte ein paar Akkorde und dann sachte die Stimme der rechten Hand der Nocturne Opus 15, Nummer zwei, in Fis-Dur, von Frédéric Chopin. Zuerst unsicher, dann immer beherzter und flüssiger.
Als Schwester Ranjah leise ins Zimmer trat, lächelte er sie an.
Dann nahm er die linke Hand zur Hilfe.
Und die Linke begleitete die Rechte. Blieb ein bißchen stehen, verschnaufte ein paar Takte, holte sie wieder ein, nahm ihr die Melodie ab, führte sie allein weiter, warf sie ihr wieder zu, kurz: benahm sich wie ein selbständiges Lebewesen mit einem eigenen Willen.
11
Zwei Jahre später war POM 55 zugelassen und unter dem Namen »Amildetox®« international auf dem Markt. Das Medikament war der erste Durchbruch in der Behandlung der Alzheimerkrankheit. Mit
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