Smaragdjungfer
vertrauter und liebgewonnener Anblick. In knapp vierhundert Metern Luftlinie dahinter lag der Nordhafen. Wenn sie das Fenster öffnete, hatte sie bei auflandigem Wind den Geruch des Meeres in der Nase. Am Tag hörte man die Möwen kreischen. In der Nacht, wenn es in der Straße ruhig und der Lärm der Stadt zum Erliegen gekommen war, konnte man mitunter sogar die Wellen im Hafenbecken plätschern hören.
Nicht nur deshalb hatte sie sich schon beim ersten Besichtigungstermin in die Wohnung im ersten Stock des Hauses Nummer 48 verliebt. Auch die Fassade im Neorenaissance-Stil hatte es ihr angetan. Die urigen drei Stufen, die zur Haustür führten, und die an der Außenmauer angebrachten stiltypischen Fensterornamente wirkten anheimelnd auf sie. Die hohen Decken der Zimmer gaben ihr Luft zum atmen.
Paula hatte in den letzten Monaten unzählige Stunden an diesem Fenster verbracht und auf die Bäume gestarrt. Vertraute Freunde in einer feindlichen Welt, die ohne Christopher leer und freudlos war. Vielleicht wäre es besser gewesen, nach seinem Tod in eine andere Wohnung zu ziehen. Aber sie mochte das Inselviertel, in dem fast jede Straße den Namen einer Nordseeinsel trug. Außerdem wäre es ihr wie ein Verrat an Christopher vorgekommen, die gemeinsame Wohnung aufzugeben.
Sie wandte sich vom Fenster ab, als das Telefon klingelte. Es war kurz nach zehn. Sie fragte sich, wer sie um diese Zeit noch anrief. Die Rufnummer war unterdrückt.
»Rauwolf.«
Stille.
»Hallo?«
Ein heiseres Flüstern: »Hören Sie auf, gegen Kastor zu ermitteln. Sonst werden Sie es bereuen.«
Paula lachte. Das hatte ihr schon als Kind geholfen, Angst, Unsicherheit oder verbalen Verletzungen das Bedrohliche zu nehmen. Irgendwann hatte sich der Mechanismus verselbstständigt und war zu einem Reflex geworden, den sie nicht mehr ablegen konnte.
»Herzlichen Dank für die Bestätigung, dass der Kerl Dreck am Stecken hat. Jetzt werde ich ihn mir noch genauer ansehen als bisher.« Sie unterbrach die Verbindung und setzte das Telefon wieder in den Sockel der Basisstation. Sie war schon immer schlagfertig gewesen, was ihr in vielen Situationen äußerst nützlich war, weil sie dem Angreifer damit den Wind aus den Segeln nahm. Trotzdem zitterte ihre Hand und ihr Herz schlug schneller. Man wurde schließlich auch als Kriminalbeamtin nicht jeden Tag mit anonymen Anrufen bedroht.
Das Telefon klingelte erneut. Paula nahm ab, ohne sich zu melden.
»Wir meinen es ernst«, drohte die heisere Flüsterstimme.
»Ich auch, Arschloch. Sagen Sie Kastor, dass er mit diesem lächerlichen Einschüchterungsversuch genau das Gegenteil von dem erreicht hat, was er wollte. Und sparen Sie sich weitere Anrufe.«
Sie legte wieder auf und hielt ihren Finger leicht auf der roten Hörertaste, um den nächsten Anruf sofort wegdrücken zu können, ohne sich anzuhören, was der Mann zu sagen hatte. Aber er meldete sich nicht noch einmal. Paula ging zurück zum Wohnzimmerfenster und blickte auf die Straße. Aber dort war nichts Verdächtiges zu sehen. Kein fremder Wagen, der unten parkte, kein Mann, der sich auffällig auf der Straße herumdrückte oder sogar zu ihrem Fenster hochsah – nichts. So dämlich benahmen sich die Verbrecher ja auch nur in schlechten Filmen und Romanen.
Obwohl sie im ersten Stock wohnte und die Wohnung keinen Balkon hatte, kontrollierte sie jedes Fenster, die wie auch die Tür mit Pilzkopfverschlägen und abschließbaren Riegeln gesichert waren. Sie nahm ihre Notizen über Kastor, setzte sich mit ihrem Laptop auf die Couch und versuchte, noch mehr über den unangenehmen Kerl in Erfahrung zu bringen. Angespannt rechnete sie damit, dass jeden Augenblick das Telefon klingeln oder sie verdächtige Geräusche von der Tür hören würde, wo jemand sich Zutritt zu verschaffen versuchte. Doch nichts geschah.
Trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl zurück, als sie sich eine Stunde später schlafen legte.
Freitag, 30. September
»Moin, Jakob. Hast du einen Moment Zeit? Ich muss dringend mit dir reden.« Weshalb Paula schon Viertel nach sieben zum Dienst erschienen war, weil sie wusste, dass Roemer grundsätzlich ab sieben an seinem Schreibtisch saß.
Roemer sah auf die Uhr. »Hat das nicht Zeit bis nach der Dienstbesprechung?«
»Nein. Außerdem steht um zehn die Obduktion in Oldenburg an. Ich muss also sofort nach der Besprechung los. Oder sogar schon vorher.«
»Also gut. Was gibt es?« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Paula setzte
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