SMS für dich
Tag steht Clara nervös vor der Haustür von Bens Schwester. Sie hat den Termin die ganze Woche über versucht zu
verdrängen. Aber unter keinen Umständen hätte sie die Verabredung mit Dorothea absagen mögen. Clara fühlt sich verantwortlich
für das Wohlergehen von «Theo», wie Ben seine Schwester immer liebevoll nannte. Denn sie weiß nur zu gut, dass Dorothea auch
zwei Monate nach Bens Tod nicht damit klarkommt. Aber trotz ihrer 25 Jahre ist sie erstaunlich weit und Clara gegenüber sehr bemüht, tapfer zu sein.
Sie haben vereinbart, irgendwas Nettes zu unternehmen. Und da das Wetter an diesem Sonntag so schön ist, überlegt Clara, Dorothea
einen Frühlingsausflug nach Hamburg vorzuschlagen. Jedenfalls kann sie dabei sichergehen, dass sie sich dort befreiter bewegen
können, ohne an jeder Ecke an Ben erinnert zu werden.
Manchmal scheint Lüneburg ein gefährliches Minenfeld zu sein. In ihrer Stammkneipe, bei Beppo, im Kino, im Kurpark, in der
Therme, in den Geschäften und selbst auf |54| den entlegensten Wegen im Wilschenbruch, dem großen, idyllischen Stadtwald … überall lauern Erinnerungen. Wie hinterhältige Scharfschützen feuern sie aus ihren Verstecken zielsicher kleine Pfeile ab.
Pfeile, die mitten ins Herz gehen und manchmal so schmerzen, dass Clara keine Luft mehr bekommt. In solchen Momenten wünscht
sie sich dann, sie könnte sich einfach in eine andere Zeit beamen. Vielleicht fünf Jahre in die Zukunft. Dann wird sich hoffentlich
alles etwas «normaler» anfühlen, auch wenn nie wieder alles gut werden kann und ein «normal» ohne Ben eigentlich undenkbar
ist.
Vielleicht hat Katja recht. Vielleicht sollte sie doch versuchen, sich mit anderen Männern abzulenken. Wer garantiert ihr
überhaupt, dass Ben und sie tatsächlich geheiratet hätten, so wie sie es sich versprochen hatten? Wenn er sich wirklich das
Leben genommen hat, hat er sie einfach verlassen, ohne sich mit einem einzigen Wort zu verabschieden. Doch der Ben, den sie
kannte und liebte, hätte so etwas niemals getan.
Clara kann sich noch gut daran erinnern, wie sie eines Abends, vor etwa einem Jahr, eine Sendung im Fernsehen gesehen hat,
die von Menschen berichtete, die einfach stumm und heimlich von zu Hause weggegangen sind, ohne Abschied zu nehmen. Sie verlassen
ihre Familien und ihre Freunde, setzen sich womöglich ins Ausland ab, sodass die Angehörigen krank werden vor Sorge, weil
sie nicht wissen, was passiert ist. Eine interviewte Mutter, deren Sohn von einem Tag auf den anderen verschwunden war, sagte,
dass die Ungewissheit viel schlimmer sei als die eigentliche Trauer um den geliebten Menschen, den man offensichtlich verloren
habe. Das tägliche Hoffen auf eine Wiederkehr |55| und die vielen Begebenheiten in der Vergangenheit, die im Geiste immer wieder überprüft werden auf Anhaltspunkte, die das
Verschwinden bestätigen oder gar erklären könnten, seien schier zermürbend.
Als Clara jetzt wie versteinert vor dem Haus steht, das Dorothea mit ihrem Vater bewohnt, wird ihr plötzlich bewusst, wie
dankbar sie sein kann, dass sie und alle anderen die Möglichkeit hatten, sich würdig von Ben zu verabschieden.
Clara würde nicht einmal behaupten, dass der Tag der Beerdigung der schlimmste in ihrem Leben war. Es waren unendlich viele
Menschen während des Gottesdienstes und der anschließenden Trauerfeier dabei. Und obwohl die Stimmung sehr von Bens Musik
eingenommen war, die sie mit Katja und auch Knut aus der Band für den Tag ausgesucht hatte, verbrachte Clara wenig Zeit nur
mit sich oder mit einsamen Gedanken an Ben. Innerlich war sie vollkommen ruhig gewesen, was ihre Mutter natürlich auf ihre
Allheilmethode Reiki und die Globulikügelchen zurückführte. Clara war es damals völlig egal gewesen, was ihr alles verabreicht
wurde. Eine Beruhigungsspritze vom Notarzt, nachdem die Kriminalpolizei sie zu Hause aufgesucht, ihr die schlimme Nachricht
nahegebracht und nach einem Abschiedsbrief und den Lebensumständen befragt hatte. Danach jede Nacht Schlaftabletten und Bachblütentropfen
und eben einige Reikibehandlungen von ihrer Mutter, die durch bloßes Handauflegen meinte, ihren seelischen Schmerz bekämpfen
zu können.
Dabei hasst Clara es eigentlich, wenn ihre Mutter ihr mit solch esoterischem Schwachsinn kommt. Wie oft sie deswegen schon
aneinandergeraten sind! Ihre Mutter ist |56| Bürokauffrau, versucht aber seit Jahren ihre wahre Erfüllung im
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