SMS für dich
Gläsern Rotspon, den er von seinem Vater geschenkt bekommen hat, ist es mittlerweile halb elf. Sven greift erneut
zu seinem Handy. Er wundert sich, dass heute noch immer keine SMS gekommen ist. Ungläubig kontrolliert er nun das Display.
Nichts. Beinahe enttäuscht geht er ins Badezimmer.
Gerade als er nach seiner Zahnbürste greifen will, ertönt das Signal, dass eine Nachricht eingegangen ist. Sofort lässt er
davon ab und eilt zum Handy. Den unbekannten Absender hat er als «Noname» gespeichert. Noname schreibt:
|45| Hab heut angefangen, endlich wieder zu malen – nur für dich: Dark Side of the Moon!
In Liebe & Dankbarkeit, Küsschen, dein Lilime
Ohne dass Sven es will, muss er plötzlich ein wenig grinsen. Die Platte von Pink Floyd gehört zu den ältesten in seiner Sammlung.
Er geht zu dem langen, weißen Regal im Wohnzimmer, in denen er alle seine LPs und CDs alphabethisch sortiert aufbewahrt. Mit
einem Griff zieht er die Platte hervor und betrachtet amüsiert das Cover, weil es ihm so vertraut erscheint und sofort Assoziationen
an seine frühste Jugend weckt. Die ersten Partys, holzvertäfelte Kellerräume, die Kumpels von damals, seine erste Liebe … Über zwei Jahre war er mit Michaela zusammen. Obwohl sie nie echten Sex wollte, denkt Sven gern an die Zeit mit ihr zurück.
Einmal hat sein Vater ihn erwischt, wie er nach der Schule mit ungeschickten Bewegungen versuchte, Michaela den BH zu öffnen.
Das war das peinlichste Erlebnis, das er bis dahin je gehabt hatte. Heute ist er selbst weitaus älter als sein Vater zu dem
Zeitpunkt war, obwohl er ihm damals sehr viel erwachsener vorkam.
Sven betrachtet die Platte sorgfältig von allen Seiten. Vielleicht würde er sich reifer fühlen, wenn seine Mutter nicht so
früh gestorben wäre? Ein Fachmann könnte diese küchenpsychologische These sicher bestätigen.
Aber ich bin bislang auch ohne professionelle Hilfe gut mit meinem Leben klargekommen, denkt Sven, auch wenn Hilke mir gern
etwas anderes einreden will.
Er legt die Platte auf. Den Plattenspieler, der optisch einen starken Kontrast zu seinen chicen Röhrenverstärkern und seiner
B& O-Anlage bildet, hat er seit Jahren nicht mehr |46| benutzt. Gespannt, ob er noch funktioniert, führt Sven die Nadel zum dritten Song «Time». Sogleich ertönt die Musik in einer
erstaunlich guten Klangqualität. Sven dreht den Ton etwas auf, gießt sich den Rest aus der Weinflasche in sein Glas und nimmt
einen kräftigen Schluck. Er öffnet die Tür zur Dachterrasse und atmet die kühle Luft tief ein. Sein Blick schweift an den
gegenüberliegenden Häusern entlang. Nur wenige Lichter sind noch zu sehen. Dafür scheint der Mond ungewöhnlich hell und hoch
über der Stadt.
Das Leben kann so schön sein, denkt Sven plötzlich. Und ohne wirklich bewusst einem bestimmten Gedanken nachzuhängen, fragt
er sich, wann es ihm das letzte Mal so gut ging.
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Clara
Stolz betrachtet Clara das Bild auf ihrer Staffelei. Sie steht mitten in der großen Küche, in der es aussieht wie bei einer
Malstunde im Kindergarten. Alles steht voller Farben, Pinsel und kleiner Behälter.
Erschöpft lässt sie sich auf dem Stuhl nieder und bemerkt erst jetzt, wie taub sich ihre Arme von der Malerei anfühlen. Sie
kann sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal mit so viel Ruhe und Hingabe einer Sache gewidmet hat. Sicher, kleinere
Zeichnungen oder auch freihändige Entwürfe hat sie auch in der Agentur hin und wieder machen müssen. Aber ein richtiges Ölgemälde,
noch dazu auf einer so großen, gerahmten Leinwand, hat sie sicher seit mehr als zwei Jahren nicht zustande gebracht. Clara
versteht gar nicht, warum sie so lange pausiert hat. Sich in diese faszinierende |47| Welt der Farben und Formen zu flüchten tut ihr gut. Dorthin, wo es keine Grübeleien gibt und Zeit und Raum in vollkommene
Vergessenheit geraten.
Im Laufe der letzten Monate mit Ben war sie einfach nie mehr dazu gekommen. Sie wollte erst die neue Wohnung einrichten und
war wochenlang mit Renovierungsarbeiten beschäftigt gewesen. Da blieb keine Zeit mehr für kreatives Pinselschwingen. Und auch
danach blieb kein Raum und keine Zeit mehr für Dinge, die sie als Single gern getan hat. Stattdessen stapelten sich weit über
100 Zeichnungen, Aquarelle, Ölbilder und Radierungen in dem neuen Kellerraum, ohne dass sie sie jemals wieder betrachtet hätte.
Als Clara vom Kühlschrank mit einer
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