SMS für dich
Clara bemerkt, dass Dorothea unruhig zum Haus zurückschaut. Ob
sie nach ihrem Vater Ausschau hält? Clara weiß, dass er seit dem Tod seines Sohnes nicht gut alleine klarkommt. Offensichtlich
wusste er aber nichts von der Verabredung.
Als sie im Auto sitzen, sagt Bens Schwester plötzlich: «Er säuft inzwischen wie ein Loch. Ich halte das bald nicht mehr aus!»
Clara ist über diese für Dorothea ziemlich direkte Art überrascht. «Dein Vater?»
|59| «Ja, ich bin völlig ratlos. Und wahrscheinlich auch nicht die Richtige, ihn zu erziehen.»
«Meinst du, er würde sich irgendwie helfen lassen?»
«Niemals. Der ist genauso ein Dickschädel wie Benni», erklärt Dorothea so unverblümt, dass es zwar bitter, aber dennoch liebevoll
klingt.
Sie schweigen eine Weile, und auch das tut Clara irgendwie gut. Sie hat sich Dorothea schon immer nahe gefühlt. Doch hatten
sie bislang kaum Gelegenheiten, so was wie echte Freundinnen zu werden. Das lag gar nicht an dem Altersunterschied, sondern
schlicht daran, dass Clara sich nicht in die Familienangelegenheiten einmischen wollte und Ben meist allein zu seiner Schwester
schickte, weil die beiden ohnehin selten zusammen waren.
Als sie nach einer halben Stunde Fahrt über die Elbbrücken kommen, spürt Clara plötzlich einen Stich in ihrer Brust. Das letzte
Mal ist sie mit Ben nach Hamburg gefahren, zu einer Einweihungsparty von Lilo und Jan, einem Pärchen, das früher neben ihnen
gewohnt hat, bis sie sich entschlossen, nach Altona zu gehen, um nicht in der Provinz zu versauern. Dabei hatten sie zu viert
meist viel Spaß zusammen. Es gab jede Menge spontaner Grill-, DVD- oder Spieleabende.
Clara bemerkt, wie sie in Gedanken zu versinken droht, obwohl Dorothea nun wieder davon redet, wie schwierig es sei mit ihren
geschiedenen Eltern, die sich selbst nach Bens Tod nicht mehr viel und schon gar keine netten Worte zu sagen haben. Sie befürchtet
sogar, dass sie sich jetzt nur noch mehr hassen und sich gegenseitig die Schuld für das Schicksal ihres Sohnes geben.
«Vielleicht bin ich ja auch an allem schuld», sagt Clara |60| plötzlich und beißt sich auf die Lippe, weil sie Dorothea damit eigentlich nicht konfrontieren möchte.
«Du spinnst total. Das darfst du nicht mal denken, Clara!», antwortet Dorothea so schnell, dass es direkt von Herzen zu kommen
scheint. «Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?»
«Kann doch sein. Wenn er sich wirklich …» Clara zögert. «Wenn er sich wirklich selbst dafür entschieden hat zu gehen, hat das ja Gründe. Vielleicht war ihm alles
zu viel, der Druck zu groß, oder was weiß ich …»
Clara kann Dorothea nicht ins Gesicht sehen. Sie blickt starr auf die rote Ampel am Rödingsmarkt. Sie hat Angst, dass ihre
Befürchtungen, jetzt, da sie sie zum ersten Mal ausspricht, dadurch wahrer werden.
«Was für einen Druck meinst du denn?»
«Na ja. Ich habe ihn offensichtlich in ein Leben gedrängt, das er vielleicht gar nicht wollte. Ich wollte all das, ein Zuhause,
eine Familie, ein ordentliches Einkommen. Sicherheit eben. Aber dafür war Ben womöglich gar nicht geschaffen.»
«Aber dann hätte er doch seinen Mund aufmachen können. Dann ist er doch selber schuld! Ich bin überhaupt manchmal richtig
wütend auf ihn.»
«Wütend? Wieso das denn?»
«Na, weil er mich mit dem ganzen Mist in unserer Familie einfach allein gelassen hat. Erst haut er von zu Hause ab, und dann
verschwindet er auch noch komplett. Und dass er diese blöden Drogen genommen hat … Macht dich das etwa nicht wütend?»
«Schon. Aber ich hab doch gar kein Recht dazu.»
«Natürlich hast du das! Ich hab gelesen, dass Wut zur |61| Trauer sogar dazugehört.» Dorothea verdreht die Augen und ballt ihre Fäuste. Sie grummelt nun richtig vor Zorn. «Manchmal
könnte ich ihn wirklich … umbringen!»
Claras Herz macht einen Satz. Und auch der Wagen beginnt zu stottern, weil der Motor absäuft, als sie wieder anfahren will.
Nach zwei Sekunden Schockzustand schauen sie sich in die Augen. Und plötzlich müssen beide lachen.
***
Nach diesem denkbar abstrusen Satz von Dorothea war irgendwie der Knoten geplatzt. Sie haben noch einen wirklich schönen Nachmittag
zusammen verbracht, denkt Clara, als sie am späten Abend erschöpft im Bett liegt. Sie ist froh, dass sie auch noch einen geeigneten
Augenblick gefunden hat, um Dorothea die Armbanduhr von Ben zu überreichen.
Sie hatten heute so viel Spaß miteinander
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