Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

SMS für dich

Titel: SMS für dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofie Cramer
Vom Netzwerk:
wie noch nie. Und doch haben sie auch zusammen geweint. Als sie zum Beispiel an
     den Landungsbrücken übers Wasser auf die andere Seite der Elbe starrten, wurde Dorothea plötzlich ganz stumm. Als sie sich
     schnäuzte, wusste Clara, dass sie weinte, obwohl sie ihr nicht direkt ins Gesicht blickte. Das war auch nicht nötig. Clara
     verstand. Und nach und nach erzählte Dorothea von dem ersten Silvester ohne ihre Eltern. Da war sie 15   Jahre alt und mächtig stolz, weil Ben sich bereit erklärt hatte, seine kleine große Schwester mit nach Hamburg zu nehmen.
     Mit einigen Leuten aus seiner Band wollten sie erst auf dem Kiez feiern und dann um Mitternacht durch den Freihafen fahren,
     um in der Nähe |62| des Musicalzeltes einen besseren Blick auf das große Feuerwerk im Hafen zu haben.
    Ohnehin haben sich die beiden Geschwister eigentlich immer gut verstanden, soweit Clara das beurteilen konnte. Doch sie haben
     wirklich nicht viel Zeit zusammen verbracht.
    So in der Art formulierte es zumindest auch Dorothea. Sie sagte, sie sei unendlich traurig, weil sie ihren Bruder immer so
     bewundert habe. Nun sei sie Einzelkind und habe ein schlechtes Gewissen, weil sie die ganze Geschichte mit der verkorksten
     Kindheit wohl besser überstanden hatte als ihr Bruder. Dabei wirkte Ben immer so stark. Er war so etwas wie ein Fels in der
     Brandung für sie gewesen, jemand, auf den man sich immer verlassen konnte und der sofort da war, wenn es mal brannte.
    Clara konnte ihr gut folgen, als sie all das in einem einzigen Monolog wie eine Art Laudatio vortrug. Ganz deutlich spürte
     sie in dem Moment, dass sie offenbar die Einzige war, mit der Dorothea so offen sprechen mochte. Und sofort fühlte sie sich
     wie ein egoistisches Monster, das über die eigene Verzweiflung und Traurigkeit die Trauer der anderen bisher nie wirklich
     realisiert hatte.
    Deshalb ist Clara auch so froh, dass sie sich getraut hat, Dorothea die Sache mit den SMS zu beichten. Bens Schwester fand
     das allerdings keineswegs unheimlich oder durchgeknallt, sondern eher amüsant. Deshalb fühlte sich Clara auch ermuntert, ihr
     zu schildern, wie sie auf die komische Idee gekommen war, Ben Nachrichten zu schicken, und welch beruhigendes Ritual das mittlerweile
     für sie geworden sei.
    Clara beichtete ihr auch, dass sie Bens Handy nachträglich |63| noch ins Grab gelegt hat, woraufhin Dorothea mit einem warmen, fast hoffnungsvollen Lächeln sagte, dann habe sie ja doch noch
     eine Chance, ihrem Bruder mitzuteilen, wie wütend sie sei und dass sie gleichzeitig bereue, ihm viel zu selten gesagt zu haben,
     wie lieb sie ihn habe.
    Clara zieht jetzt die Decke höher und muss lächeln, als sie sich vorstellt, wie Dorothea nun ab und an ihrem Bruder eine SMS
     schickt und darin vielleicht ebenfalls ein bisschen Trost findet. Und sie ist sehr froh darüber, dass sie keine Angst hatte,
     Bens Schwester in ihre Gedanken einzuweihen. Gedanken, die sie sonst allenfalls mit ihrer Oma teilen mochte und manchmal auch
     mit Katja, wenn sie genügend Alkohol im Blut hatten. Aber bei Dorothea fühlte es sich sogar richtig an, die abstrusen Geschichten
     zu erzählen, die sie früher mal über Angehörige von Verstorbenen gehört hat. Seit Bens Tod kommen ihr diese Episoden immer
     wieder ins Bewusstsein. Offensichtlich gibt es Menschen, die wirklich so eine Art Energieerfahrung machen, nachdem sie einen
     geliebten Menschen verloren haben.
    Clara hat Dorothea von der Begebenheit erzählt, die ihre Mutter angeblich mit Claras Vater erlebt hat, etwa zehn Tage nachdem
     er gestorben war. Karin fuhr damals mit der Autofähre nach Schweden, um Abstand zu gewinnen. Während Clara vorübergehend bei
     Lisbeth und Willy einzog, wollte ihre Mutter versuchen, auf dieser Reise durch Skandinavien das ganze Leid ein wenig hinter
     sich zu lassen. Schließlich hatte sie ihren Mann über Monate gepflegt und den voranschreitenden Verfall seines Körpers direkt
     mit ansehen müssen. Clara weiß zwar bis heute nicht, ob die Ehe ihrer Eltern das war, was man eine große Liebe nennen könnte.
     Aber sie kann sich gut vorstellen, wie schlimm der |64| Verlust für ihre Mutter gewesen sein muss. Und auch wenn Karin nun wieder liiert ist, so weiß Clara doch, dass die Verbindung
     ihrer Eltern eine ganz besondere war. Abgesehen davon, kann der eher langweilige Reinhard ihrem Vater nicht das Wasser reichen.
    Als Karin jedenfalls damals an Deck der Fähre stand, war es bereits dunkel draußen. Über

Weitere Kostenlose Bücher