SMS für dich
merkwürdig still gewesen. Vielleicht weil er zu diesem Zeitpunkt schon mit seinem eingeschlagenen
Weg haderte. Ob ihm da bereits klar war, dass er ihn nicht würde weitergehen können?
Es schnürt Clara die Kehle zu, wenn sie jetzt daran denkt, dass Ben gewusst haben mag, dass der Abschied von seiner Oma, die
ihm sehr am Herzen lag, für immer sein sollte. Womöglich hatte er die gesamte Zugfahrt über tieftraurig aus dem Fenster geschaut
und sich bei seiner Ankunft in Lüneburg unglaublich zusammenreißen müssen, damit Clara keinen Verdacht schöpfte.
Nun ist sie also wieder hier – und doch ist alles anders.
Es ist wie neulich im «Castello», denkt Clara. Alles, was ich tue, tue ich das erste Mal nicht mit Ben, sondern allein.
Doch letztlich verdankt sie überhaupt nur Ben, dass sie nun hier steht. Hier, an diesem Wendepunkt in ihrem Leben, der sich
plötzlich anfühlt wie ein kompletter Neustart. Von hier aus geht es in eine Richtung, an die Clara vorher niemals gedacht
hätte. Und nie hätte sie geahnt, dass sie fähig ist, einen solch mutigen Weg zu gehen.
Clara ist noch immer völlig in Gedanken versunken, als der Metronom aus Hamburg endlich eintrifft. Sämtliche schlauen Sätze,
die sie sich den ganzen Tag über zurechtgelegt hatte, sind jetzt einfach aus ihrem Kopf verschwunden. Und noch ehe sie Ausschau
nach einem Mann im Anzug halten kann, wird sie auch schon angesprochen.
«Sie müssen Clara Sommerfeld sein!», sagt ein erschreckend gut aussehender Mann in Jeans mit kleiner Laptop-Tasche unterm
Arm.
|190| «Äh, ja. Herr Lehmann?»
Er reicht ihr die Hand und blickt ihr dabei so tief in die Augen, dass Clara ganz verunsichert ist.
«Sven Lehmann, genau. Danke, dass Sie so lange auf mich gewartet haben.»
***
Irgendwie macht sie dieser Typ einfach nervös, denkt Clara, als sie ihm nun im «Cheers» gegenübersitzt, ausgerechnet genau
an dem Tisch, an dem sie damals mit Ben gesessen hat. Komischer Zufall, dass Herr Lehmann diesen Platz angesteuert hat, obwohl
es noch mehrere Alternativen gegeben hätte. Aber sie mag den Mann, er hat einen coolen Humor und durchaus Charme, den er sicher
schon bei Hunderten von Frauen gekonnt eingesetzt hat.
«Sie passen richtig gut in dieses hübsche, sympathische Städtchen», hatte er selbstsicher erklärt, als Clara die Tür des Ateliers
wieder hinter sich zuschloss. Während der kurzen Besichtigung hatte der Journalist auch ein paar Fotos von ihr gemacht. Sein
Kompliment war sie einfach übergangen.
Wie alt er wohl sein mag?, fragt Clara sich nun und studiert unauffällig sein Gesicht. Sicher irgendwas um die vierzig, denkt
sie und schaut lieber schnell wieder in die Karte, obwohl sie die Auswahl an Getränken und Speisen hier eigentlich auswendig
kennt.
«Wie wollen Sie das Thema ‹Junge Freiberufler› denn eigentlich aufziehen?», fragt Clara, bemüht, dieses Gespräch so souverän
wie möglich hinter sich zu bringen. Innerlich ermahnt sie sich, am besten die Tatsache zu ignorieren, dass ihr Gegenüber eine
gewisse Faszination auf sie ausübt. |191| Seine gelegentlichen machohaften Gesten erinnern sie an Ben, und sofort beschleicht Clara ein schlechtes Gewissen. Aber sie
wird sich einfach so professionell wie möglich geben und ihrem Interviewpartner keinerlei Spielraum für privates Geplänkel
lassen.
Sven Lehmann erzählt bereitwillig, wie er sich den Artikel vorgestellt hat. Und obwohl Clara das wirklich interessiert, ist
sie irgendwie nicht in der Lage, ihm richtig zuzuhören. Kein Wunder, denkt sie insgeheim, bei den Augen! Ob die Leute am Nebentisch
wohl denken, sie seien ein Paar? Dabei ist er doch liiert! Eine Kollegin oder eine platonische Freundin war das jedenfalls
bestimmt nicht, mit der er im «Castello» essen war. Da hat Beppo ein untrügliches Gespür. Ob Sven Lehmann wohl öfter mit seiner
Freundin oder Frau in Lüneburg ist?
«Ich denke, ich nehme einen offenen Weißwein. Was ist mit Ihnen? Wir könnten auch eine ganze Flasche bestellen. Sie sind selbstverständlich
eingeladen.» Er sieht sie mit einem Lächeln an, das seine Augen funkeln lässt und Clara noch mehr verunsichert.
«Ähm, ich nehme lieber eine Schorle … also, eine Saftschorle … also Wasser mit Maracujasaft und nicht Wasser mit Wein», hört Clara sich stottern. Sie möchte sich am liebsten auf die Zunge
beißen, weil sich das alles andere als souverän und professionell anhört.
Sven Lehmann schaut auch
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