SMS für dich
ihre leuchtenden Augen und ihre sinnliche Ausstrahlung
denken, sondern |216| plötzlich auch an David. Noch bis vor wenigen Tagen hätte er seinen Kumpel für verrückt gehalten, weil dieser bloß aufgrund
der Begegnung mit einer Frau so ein Theater machte. Und jetzt ist es ihm offenbar selbst passiert.
Ich hab mich verknallt, denkt er. Und alles, was ihm bis vor kurzem noch unvorstellbar war, erscheint auf einmal greifbar
und leicht. Wie ein vorgeschriebener Weg, zu dem es keine Alternative gibt.
Auch wenn er Clara am liebsten gleich bei seiner Ankunft in Lüneburg vernascht hätte und die Vorstellung, mit ihr zu schlafen,
eine tiefe Sehnsucht in ihm auslöste, fand er es sogar ganz süß, wie sie sich – und ihn – zurückgehalten hat.
Im Gegenteil, es war ihm ein Bedürfnis, erst einmal jede Äußerung, jede Geste und jedes Lächeln von ihr in sich aufzusaugen.
So als ob er all die Phantasien, die er mit Clara verknüpft hatte, zunächst Schritt für Schritt mit Leben erwecken musste.
Auch wenn sie ihm in ihrer bedachten Art schon so vertraut vorkam, erschloss sich mit jeder konkreten Betrachtung und Berührung
dieser Frau eine neue Welt, die er unbedingt bis ins Letzte kennenlernen will. Denn je weniger Clara dabei von sich preisgibt,
desto stärker ist sein innerer Drang, alles über sie zu erfahren. Gestern hat sie sich sehr bedeckt gehalten, was ihre Vergangenheit
angeht. Sven hatte Mühe, sich nicht zu einer unbedachten Äußerung hinreißen zu lassen. Das Missverständnis mit der SMS, die
Clara – im Glauben, sie schreibe ihm – an den geldgierigen Teenager vom Altonaer Bahnhof geschickt hatte, konnte er zumindest
ansatzweise aufklären. Jedenfalls schien sie ihm seine Geschichte zu glauben. Er wollte nicht gleich ihr mühsam erworbenes |217| Vertrauen wieder verlieren. Er behauptete deshalb einfach, dass es ein dienstliches Handy sei, das er nur bei Außenterminen
mit sich führt und ansonsten einfach ignoriert und in seiner Schreibtischschublade verkümmern lässt. Sven kann nur von Glück
sagen, dass Clara nicht sofort nach seiner privaten Handynummer gefragt hat. Denn in jener stimmungsvollen und romantischen
Situation auf dem Sofa wäre es ihm unmöglich gewesen, einen plausiblen Grund dafür zu erfinden, warum er sie ihr nicht gleich
geben könne.
Aber Sven weiß, dass er Clara nicht ewig im Unklaren lassen kann. Bis zu ihrem Treffen nächsten Freitag in Hamburg wird er
sich einen Weg überlegen, wie er ihr sanft, aber doch direkt die ganze Wahrheit erzählen kann, damit nichts mehr zwischen
ihnen steht.
Mit diesem festen Vorsatz erklimmt er nun eilig die Treppenstufen zu seiner Wohnung. Gerade als er seine Jacke in die Ecke
pfeffern will, piept sein Handy.
Sven muss zunächst grinsen, aber dann auch etwas schlucken, als er die SMS von Clara liest:
Ach Ben, ich bin so glücklich, vergehe aber vor schlechtem Gewissen. Auch wenn ich dabei bin, mich in einen anderen zu verlieben,
werde ich dich niemals vergessen!
Je weiter der gestrige Abend zurückliegt und je mehr Kilometer er zwischen sich und Clara gebracht hat, desto mehr Zweifel
beschleichen Sven. Was, wenn sie die Wahrheit nicht erträgt? Ob sie ihn dann immer noch so verträumt ansieht, wenn er ihr
alles beichtet? Ob er sich nicht doch in irgendwas hineingesteigert hat? Was, wenn die Anziehung, |218| die auch beim gemeinsamen Frühstück noch so deutlich spürbar war, bloß Wunschdenken ist?
Wieder und wieder liest Sven die Worte. Verunsichert nimmt er sich vor, noch heute bei Clara anzurufen, um sie endlich über
alles aufzuklären.
Als er Richtung Küche geht, um sich erst mal einen Kaffee zu machen, klingelt sein Telefon. Außer seinem Vater macht sich
kaum noch jemand seiner Bekannten die Mühe, seine Festnetznummer zu wählen. Meistens kontaktieren ihn die Leute auf dem Handy
oder per Mail.
Sven schaut aufs Display. Da er die Lüneburger Vorwahl ausmachen kann, atmet er tief durch, nimmt ab und sagt gut gelaunt:
«Hallo, meine Schöne!»
«Mhm. Welche Schöne meinst du denn?», fragt eine skeptische, aber wohlvertraute Stimme.
«Für mich gibt es keine andere Frau auf der Welt, die ich so begrüßen würde.»
«Na gut. Dann will ich dir das mal glauben. Aber wer weiß?», fragt Clara spöttisch. «Vielleicht führst du ja auch ein Doppelleben …»
«Wieso sollte ich das tun? Außerdem hätte ich dich dann sicher nicht zu mir nach Hause eingeladen.»
«Mhm,
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