Snow Angel
Gas.
„Versuch mal!“, ruft er ihr zu.
Cornelia probiert ihren Wagen anzulassen. Der Diesel gibt ein erstes Lebenszeichen von sich und beschließt gemeinsam mit der Ente, dass sich nun beide zur Ruhe begeben werden. Cornelia sieht den jungen Mann entgeistert an.
„Tja, Madame, das tut mir nun wirklich leid, aber anscheinend saugt dein Diesel mein Entchen leer. Jetzt haben wir den Salat und keine Eier. Vielleicht sollten wir doch den ADAC rufen und inzwischen zusammen ein Käffchen trinken gehen? Sieh mal, da drüben ist doch ein Bäcker. Da gibt’ s welchen. Passt mir eigentlich ganz gut, ist 'ne nette Gelegenheit, die erste Vorlesung zu verpassen. Hatte sowieso keinen Bock auf's Paradox der amerikanischen Macht“, grinst er.
Cornelia kocht innerlich. Ihr rennt die Zeit weg und dem Knaben scheinen davon reichliche Mengen zur Verfügung zu stehen. Diese Gelassenheit möchte sie gerne haben! Trotzdem muss sie lächeln, denn schließlich war er der einzige Mensch, der sich ganz selbstverständlich ihres Problems angenommen hat. „Politikstudent?“, fragt sie.
„Jau, Politik, Geschichte und Medien. Achtes Semester. Kannst mich übrigens Kalle nennen. Und du bist?“
„Cornelia. Und verdammt unter Druck heute Morgen! Kalle, es war ja wirklich ganz zauberhaft von dir anzuhalten, aber ich darf mir leider keine Kaffeepause genehmigen. Ich muss zusehen, dass ich ins Büro komme.“
Weitere Erklärungen kann sie sich zu ihrer Erleichterung sparen, denn ein Dodge RAM hält neben ihnen an. Das dunkle Blubbern des Achtzylinders schluckt weitere höfliche Worte. Die gewaltige Maschine scheint den Boden unter Cornelias Füßen zum Beben zu bringen.
Sie ist froh, dass der Asphaltcowboy, der dem Wagen entsteigt, sich genau hier und heute nicht irgendwo im „Mittleren Westen“ befindet.
„Na, Leute, kriegt ihr eure Nuckelpinnen nicht an?“, fragt er und schiebt seinen Hut ins Genick. „Lasst da mal den Vadder ran!“
Der „Vadder“ hat binnen weniger Minuten beiden Autos neuen Atem eingehaucht und kreuzt noch einmal an Cornelias heruntergelassener Scheibe auf. Sie befindet, dass er vermutlich jedes normal große Auto mit seinen Maßen sprengen würde. Die Sonne verdunkelt sich, als der Mann seine muskulösen Unterarme in der Fensteröffnung abstützt. Trotz der bitteren Kälte ist er im T-Shirt unterwegs. Dicht an dicht zieren eine Reihe außergewöhnlicher bunter Kunstwerke seine Arme, und Cornelia nimmt einen extrem „männlichen Duft“ wahr.
„Kauf dir 'ne neue Batterie“, empfiehlt er und drückt ihr eine Visitenkarte in die Hand. „Michaels' Store! Gleich da vorn um Ecke. Ich mach dir 'nen guten Preis.“
Ihren Dank nimmt er jovial lächelnd entgegen, tippt zwinkernd mit dem Zeigefinger an seinen Hut und wünscht ihr gute Fahrt. Kalle winkt ihr noch einmal zu. Endlich kann sie sich auf den Weg ins Präsidium machen.
Cornelia hängt die dicke Daunenjacke an die Garderobe und sieht sich den etwas muffigen Gesichtern der Kollegen gegenüber. Allerdings traut sich niemand, ihr Vorhaltungen zu machen. Sie ist die Chefin der Abteilung.
„Mit dem Wagen liegengeblieben … Batterie ...“, murmelt sie nur, gießt sich den ersten Morgenkaffee ein und verschwindet in ihrem Büro. Im Mailkonto findet sie den Bericht von Hauptmeisterin Peter zur Hausdurchsuchung im Fall „Reinhard Westphal“. Die Liste der beschlagnahmten Gegenstände liest sich wie zu erwarten. Nichts Besonderes. Lediglich ein Asservat erregt ihre Aufmerksamkeit. Frau Peter beschreibt einen runden goldenen Anhänger an einer Halskette und hat das Fundstück mit dem Wort „ungewöhnlich“ und mehreren Ausrufungszeichen markiert.
Cornelia greift zum Telefon und ruft die Kriminaltechniker an. Was sie erfährt, lässt einen Verdacht in ihr aufkeimen. Sie ist elektrisiert. Grußlos verlässt sie die Abteilung, eilt die Treppen zur KT hinunter und hat eine Viertelstunde später Gewissheit. Das Schmuckstück, das im Plastikbeutel vor ihr liegt, hat mit einem alten Fall zu tun. Mit einem Fall, der sie vor zweieinhalb Jahren beschäftigt hat und den sie nicht hatte aufklären können.
Mit einem ausgedruckten Foto der Kette kommt sie in ihre Abteilung zurück und lässt sich zum Erstaunen der Kollegen die Akten des Falles „Laura Turm“ bringen. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wehrt sie alle Fragen ab, schließt die Tür ihres Büros und will zunächst alleine ihrem Verdacht
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