Snow Angel
endlich ist er sich im Bruchteil einer Sekunde klar darüber, wem er die ganze Zeit zugesehen hat.
Simon nimmt wenig Rücksicht darauf, wen er alles anrempelt, als er die Treppe hinuntereilt. Alles in ihm schreit nach ihr und die ersten Töne des alten Moody-Blues-Titels lassen sein Herz springen.
Diesen Tanz wird ER mit ihr tanzen!
*
Antonio breitet mit einem strahlenden Lächeln die Arme vor ihr aus.
Und seine Freude kennt keine Grenzen, als in ihrem Gesicht die Sonne aufzugehen scheint. So glänzende Augen, so einen überglücklichen Ausdruck hätte er sich nie zu erträumen gewagt.
Antonio überkommt nur ein befremdliches Gefühl, als er bemerkt, dass sie irgendwie an ihm vorbeizuschauen scheint. Irritiert sieht er sich halb um, als ihm jemand freundlich die Hand auf die Schulter legt und ins Ohr sagt: „Antonio, dein Vater lässt dich grüßen und lässt dir ausrichten, du sollst nicht zu spät heimkommen.“
Es ist der Moment seiner fürchterlichsten Niederlage, als er erkennt, wer ihn so sanft und freundlich ins Bett schickt. Geschlagen dreht er sich um und geht.
*
Für Simon scheint sich eine Furt im Fluss der Menschenmenge aufgetan zu haben. Niemand hindert ihn, die letzten Schritte auf Nina zuzumachen. Alle weichen einen Schritt zurück, vergessen das alte Liebeslied zu tanzen. Als er sie erreicht hat, sind viele Augen auf sie beide gerichtet.
„Schnee-Engel, mein Schnee-Engel!“ Mehr bringt er nicht heraus, als er sie in die Arme nimmt.
„Simon, halt mich fest und lass mich nie wieder los!“
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Jenny muss sich ein paar Tränchen der Rührung verkneifen und Marc und Dennis sind in ihrem Verstehen der absoluten Aussichtslosigkeit plötzlich wieder sehr gute Freunde.
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Nina will sich am liebsten in ihm auflösen, schmiegt die Wange dicht an seiner Brust unter seine Lederjacke.
Zärtlich sucht er die nackte Haut auf ihrem Rücken, streichelt sie sacht, um sie im nächsten Augenblick wieder so dicht an sich zu pressen, dass sie fast keine Luft mehr bekommt.
„'Cause I love you, yes I love you“, hört Nina die warme Stimme des Moody-Blues-Sängers und nickt heftig an seiner Brust.
„Ich liebe dich, Nina“, flüstert Simon an ihrem Ohr.
Ihre Antwort geht im Applaus der Umstehenden unter, den Jenny initiiert hat, als der Song zuende ist. Nina und Simon stehen in der Mitte der Tanzfläche und küssen sich. Was um sie herum vorgeht, scheinen sie nicht mehr wahrzunehmen.
*
Die Szene, die sich dort unten abspielt, ist dem DJ in seinem Glaskasten nicht entgangen und mit Harry Nilssons schwer angestaubtem One-Hit-Wonder „Without You“ setzt er noch einmal musikalisch kräftig einen drauf und lässt die Nebelmaschine einen zauberhaften Schleier verbreiten, den er in rosiges Licht taucht. Solche Situationen liebt er und hat einen Heidenspaß daran, die Stimmung möglichst lange zu erhalten. Selten genug passiert so etwas Wunderbares.
*
„Nimmst du auch karierte Baumwolle oder muss es weißer Satin sein?“, fragt Simon sie leise.
„Ist mir scheißegal, Hauptsache du liegst drin“, lacht Nina.
„Lass uns gehen!“
Gehen kann man es kaum nennen! Nina schwebt an seiner Hand auf rosaroten Wolken aus dem Paco's.
19. Kapitel
Kommissarin Sänger flucht, als sie an diesem frühen Dienstagmorgen ihren Passat Diesel starten will. Sie hätte es sich denken können, denn es war schon ein schlechtes Zeichen gewesen, wie langsam sich die Knöpfchen der Türen beim Aufschließen nach oben bewegt hatten. Seufzend gibt sie ihre Versuche auf, steigt aus und sieht sich auf der Straße nach einem Autofahrer um, der ihr Starthilfe geben könnte. Sie öffnet die Motorhaube, nimmt die Startkabel aus dem Kofferraum und bemüht sich, Unterstützung herbeizuwinken. Der morgendliche Berufsverkehr fließt an ihr vorbei. Alle Welt scheint es furchtbar eilig zu haben. Schulkinder winken ihr aus einem voll besetzten Bus vergnügt zu, Autofahrer sehen angestrengt weg, scheuen den Blickkontakt, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, anhalten zu müssen und Zeit zu verlieren. Cornelia Sänger schaut auf ihre Uhr und überlegt gerade, sich doch lieber ein Taxi zu rufen, als endlich jemand anhält.
„Kann ich helfen?“, ruft ein junger Mann ihr aus seiner rostigen Ente zu.
„Oh bitte gern!“ Sie ist erleichtert.
„Warten Sie, das haben wir gleich“, sagt er zuversichtlich, klemmt die Startkabel an, setzt sich in seinen Wagen und gibt etwas
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