Snow Angel
machen“ beim Fahren.
Simon macht durchaus nicht „piano“.
Die Aussicht darauf, Nina möglicherweise heute noch, jetzt sofort, wieder zu sehen, setzt eine Flut von Gefühlen in Bewegung, die sich mit dem Inhalt des Wortes „piano“ schlicht nicht koordinieren lassen. Es ist ihm jetzt auch egal, dass es Hubert anscheinend erstaunlicherweise fertig bekommen hat, ihm eine SMS auf sein Handy zu schicken, in der er mitteilt, er würde sich „in den nächsten Tagen“ wieder melden. Simon wirft das Handy auf den Beifahrersitz.
Was denkt der alte Mann sich? In den nächsten Tagen! Ist der irre?
Die letzte Ampel, die er passieren muss, ist schon dunkelorange, als er sie gequert hat. Es ist ihm im Moment egal. Der Parkplatz vor dem Paco's ist voll. Er muss also ein Stückchen weiter fahren, findet einen viel zu kleinen Platz für den Cherokee in einer Nebenstraße. Er stellt ihn halb in einer Einfahrt, natürlich mit Verbotsschild, ab.
Simon bemerkt, dass er fast läuft und mahnt sich, es ein bisschen gelassener anzugehen. Nur mal angenommen, sie wäre wirklich da: Was für einen Eindruck sollte sie wohl bekommen, wenn er völlig abgehetzt und aus der Puste ankäme? Nein, wie auch immer, bei allem Irrsinn muss er sich unbedingt ein Stück seiner Souveränität zurückholen. Solch eine Frau erobert man nicht als hechelnder Dackel. Bewusst bemüht er sich, runterzukommen, atmet tief die frische Winterluft und hat tatsächlich beim Eintreffen im Paco's ein gewisses Maß seines inneren Gleichgewichtes wiedergefunden.
Wie kann das an einem Montagabend hier bloß so voll sein
, fragt er sich, als er in der Menschenmenge nur sehr langsam bis an die Theke vordringt.
Klar, Winter-Urlaubszeit! Die ganze Stadt ist voller Touristen. Und wie soll ich hier die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen finden – wenn sie denn überhaupt da ist?
Simons Mut sinkt ein bisschen, als er sich den Anejo bestellt.
Er beschließt, sich die Sache von oben zu besehen, und geht die Treppe zur Empore hinauf. Auch hier stehen die Gäste dicht gedrängt. Mit etwas Mühe gelingt es ihm aber, sich Ellbogen an Ellbogen mit einer sehr jungen Schönheit auf der einen und einem hemdsärmeligen Mann auf der anderen Seite einen Platz am Geländer freizukämpfen.
Die Musik ist nicht ganz nach seinem Geschmack. Simon kann die synthetisch wirkenden, treibenden House-Rhythmen nicht leiden. Sie wecken ein gewisses Aggressionspotenzial in ihm.
Insofern ist er erleichtert, dass der Discjockey jetzt offenbar zur Vernunft gekommen ist und mit dem alten Neunziger-Hit der Gruppe „Heroes del silencio“ anscheinend genau den Nerv des Publikums getroffen hat. Das plötzliche Gedränge auf der Tanzfläche spricht jedenfalls klar dafür.
Alles, was er von hier oben aus erkennen kann, ist ein Meer von zuckenden Körpern. Wonach sucht er? Nach einem Mädchen im Skianzug? Nach einer ungewöhnlichen Haarfarbe, die sich nur die Natur ausgedacht haben kann und die sicher nicht aus einer Tube beim Friseur gekommen ist?
Unmöglich, selbst nach diesem kleinen Detail zu fahnden, denn das bunte Stroboskoplicht macht alle Farben gleich.
Er lässt den Blick schweifen und bleibt immer wieder an einer Gestalt hängen, deren Bewegungen sich abheben vom allgemein nicht vorhanden scheinenden Rhythmusgefühl, das der Titel erfordert.
Wenn er Nina schon nicht finden kann, will er sich wenigstens an diesem Anblick erfreuen, der seine eigenen Bewegungen spiegelt. Nur auf der Stelle, ohne Platz zu haben, geht ihm die Musik einfach so in den Körper, dass er sich leise im Rhythmus mitbewegt. Das Mädchen da unten scheint völlig weggetreten zu sein. In einem tiefschwarzen engen Kleid mit einem bemerkenswerten Rückenausschnitt tanzt sie mit geschlossenen Augen völlig selbstvergessen und mit einer Anmut, die ihn tief berührt. Er beschließt, ihr einfach weiter zuzusehen, und wendet seinen Blick nicht mehr ab.
Er beobachtet, wie zwei junge Männer versuchen, sich ihr zu nähern, ihre Nachbarin ihr anscheinend etwas mitzuteilen versucht, und sie sich einfach nur wegdreht, sich weiter versunken der Musik hingibt. Simon ist fasziniert und vergisst völlig, warum er gekommen ist. Der Anblick hat eine magische Wirkung, der er sich nicht entziehen kann. Als die letzten Töne verklungen sind, das zuckende Licht für einen Moment Ruhe gibt, erkennt er, wie ein Mann sich dem Mädchen nähert und mit ausgebreiteten Armen auf sie zugeht. Diesen Mann kennt er und
Weitere Kostenlose Bücher