So fern wie ein Traum
sie war nicht Dornröschen, dachte sie, auch wenn sie das Gefühl hatte, als sei sie aus einem jahrzehntelangen Schlaf erwacht. Als habe sie darauf gewartet, dass ein Mann wie er sie fand.
Und das hatte Michael getan, oder besser, sie hatten einander gefunden, dachte sie. Weshalb also saß sie allein hier herum und bastelte an ihrem Terminkalender für die nächsten Tage herum? Die nächsten Tage kämen sowieso. Warum also war sie nicht bei ihm? Sie könnte einfach zu ihm gehen. Laura kniff die Augen zusammen und beschloss: wenn sie wieder aufstünde, sich zu seiner Wohnung umdrehte und sein Licht noch brannte, dann ginge sie zu ihm. Und er würde sie erwarten und begehren wie zuvor.
Sie hielt den Atem an, stand auf und drehte sich ganz langsam um. Dann atmete sie langsam wieder aus, als nichts als die dunkle Silhouette seines Hauses zu sehen war.
Michael hatte nicht gewartet.
Sie strich sich über die fröstelnden Arme und dachte, was für eine Närrin sie doch war. Das gelöschte Licht bedeutete nicht, dass er sie abwies, sondern einzig, dass er müde und deshalb zu Bett gegangen war. Und genau das sollte sie am besten auch tun. Am nächsten Tag hätte sie Dutzende Dinge zu erledigen, und sicher käme sie nach einer ruhigen Nacht wesentlich besser damit klar.
Außerdem mussten sie ja nicht jede Nacht zusammen sein. Sie hatten einander nichts versprochen. Wütend, weil plötzlich ihre Augen brannten, blickte sie wieder aufs Meer hinaus. Keine Versprechungen, keine Pläne, keine sanften Worte, dachte sie.
War es das, was sie wollte, überlegte sie. Eigentlich hätte ihr doch die Erfahrung zeigen müssen, dass es solche Dinge gar nicht gab. Aber welche Schwäche ließ sie sich danach sehnen, dass es diese Worte, diese Versprechen, diese Pläne gab? Konnte sie nicht einfach mit dem zufrieden sein, was ihr beschieden war, ohne ständig von dem zu träumen, was sein könnte?
Es war egal, was sie sich sagte, musste sie sich eingestehen. Es war egal, was sie ihrer Mutter oder Margo oder Kate – oder auch Michael – gegenüber von sich gab. Es waren alles Lügen. Sie, die berüchtigt schlechte Lügnerin, hatte zum ersten Mal in ihrem Leben alle, auch sich selbst, getäuscht.
Sie liebte ihn. Sie liebte ihn von ganzem Herzen, und niemand ahnte es auch nur. Ein Teil von ihr hatte sie beide schon vor sich gesehen: morgen, im nächsten Jahr, in zehn Jahren. Als Liebende, Partner, Familie. Mit weiteren Kindern, einem glücklichen Heim, einem Leben in Gemeinsamkeit.
Sie hatte aller Welt, auch ihm und sich, ganz einfach etwas vorgemacht. Und nun, wie es mit Lügen nun mal war, müsste sie damit weiterleben und dafür Sorge tragen, dass niemand ihr jemals auf die Schliche kam.
Alles andere wäre ihm gegenüber einfach nicht fair. Denn Michael hatte nicht gelogen, dachte sie. Er begehrte sie, und sie hatte keinen Zweifel, dass er sie auch gern hatte. Er hatte ihre Kinder gern, war bereit, ihr in vielen Dingen beizustehen. Er gab ihr seinen Körper, hatte ihre Leidenschaft geweckt und ihr eine Freundschaft angeboten, die ihr wirklich wichtig war.
Aber das reichte ihr nicht.
War sie eigensüchtig oder einfach närrisch, überlegte sie. Doch im Grund war das vollkommen bedeutungslos. Sie hatte eine Illusion geschaffen und würde sie erhalten, da sie ihn sonst ganz sicher bald verlor.
Wenn es dann irgendwann vorbei wäre, würde sie es weder bereuen noch darüber fluchen, dachte sie. Sie würde weitermachen, denn das Leben war lang und kostbar und hatte verdient, dass sie ihr Bestes gab. Wenn die Zeit gekommen wäre und sie keine Wahl mehr hätte, als ohne ihn zu sein, würde sie sich daran erinnern, wie es gewesen war, wieder zu empfinden und zu lieben. Und sie würde ewig dankbar dafür sein.
Etwas beruhigt stützte sie sich zum Aufstehen auf dem Boden ab. Ihre Finger schlössen sich um eine kleine runde Scheibe, als hätten sie gewusst, dass sie dort lag und auf sie wartete. Mit klopfendem Herzen hob sie sie hoch und drehte sie im hellen Licht des Mondes und der Sterne vorsichtig herum.
Die goldene Münze glitzerte. Seit hundertfünfzig Jahren – sie erschauderte – hatte niemand sie gesehen oder gar berührt. Seit ein junges, verzweifeltes Mädchen sie in Erwartung der Rückkehr ihres Geliebten hier versteckt hatte. Diese Münze, das Symbol des Traums, des Versprechens und des schmerzlichen Verlusts, lag kühl in ihrer Hand.
»Seraphina«, murmelte sie, ehe sie mit angehaltenem Atem die Finger über der Goldmünze
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