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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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gesehen, was ich gesehen habe.«
    Es brannte und spannte unter dem Pflaster auf ihrem Hals. Sie streifte die Plastiktüte von der rechten Hand, legte ihre Hand auf das Pflaster. Sie war eiskalt, und das war wohltuend. Aber sie war vollkommen ermattet und hatte das Gefühl, sich nicht mehr lange auf den Beinen halten zu können.
    Sie musste mit diesem Karton fertig werden und dann nach Hause gehen. So ging es einfach nicht. Wenn sie sich am Wochenende ausruhte, würde es ihr Montag sicher schon viel besser gehen. Sie streifte die Plastiktüte wieder über und stürzte sich einigermaßen wütend auf die Arbeit. Sie hasste es, krank zu sein.
    Ein stechender Schmerz im Zeigefinger. Verdammt. So geht es einem, wenn man nicht bei der Sache ist. Die Krabben waren scharf, wenn sie noch gefroren waren, und sie hatte sich gestochen. Sie zog die Plastiktüte ab und betrachtete ihren Zeigefinger. Ein kleinerer Schnitt, aus dem Blut hervorquoll.
    Automatisch steckte sie den Zeigefinger in den Mund, um das Blut abzulecken.
    Ein warmer, heilender, wohlschmeckender Fleck breitete sich von dem Punkt aus, an dem ihre Fingerspitze der Zunge begegnete, pflanzte sich fort. Sie saugte stärker an ihrem Finger. Alle wohlschmeckenden Dinge der Welt in konzentrierter Form füllten ihren Mund. Ein Schauer des Wohlbehagens durchfuhr ihren Körper. Sie saugte und saugte an dem Finger, gab sich dem Genuss hin, bis sie erkannte, was sie da eigentlich tat.
    Sie riss den Finger aus dem Mund, starrte ihn an. Er war speichelnass, und die kleine Menge Blut, die nun austrat, löste sich wie zu stark verdünnte Wasserfarben augenblicklich im Speichel auf. Sie betrachtete die Krabben, die in dem Karton lagen. Hunderte kleiner, hellrosa gefärbter Körper, von einer Frostschicht bedeckt. Und Augen. Schwarze Stecknadelköpfe, die in all das Weiß und Rosa eingestreut waren, ein umgekehrter Sternenhimmel. Muster, Konstellationen begannen vor ihren Augen zu tanzen.
    Die Welt drehte sich um sich selbst, und jemand schlug ihr auf den Hinterkopf. Vor ihren Augen war eine weiße Fläche mit Spinnweben an den Rändern. Sie begriff, das sie auf dem Fußboden lag, aber ihr fehlte die Kraft, daran etwas zu ändern.
    Aus weiter Ferne hörte sie Berits Stimme: »Oh, mein Gott … Virginia …«
    *
    Jonny war gerne mit seinem großen Bruder zusammen. Zumindest solange keiner seiner seltsamen Kumpel dabei war. Jimmy kannte ein paar Typen aus Råcksta, vor denen Jonny ziemliche Angst hatte. Eines Abends vor einem Jahr waren sie zu ihrem Haus gekommen, um mit Jimmy zu reden, hatten aber nicht hineingehen und klingeln wollen. Als Jonny ihnen gesagt hatte, dass Jimmy nicht zu Hause war, hatten sie ihn gebeten, seinem Bruder etwas auszurichten.
    »Sag deinem Bruderherz, wenn er bis Montag nicht mit der Kohle rüberkommt, klemmt jemand seinen Schädel in eine Schraubzwinge … weißt du, was das ist? … okay … und dreht daran, bis ihm die Mäuse aus den Ohren laufen. Kannst du ihm das ausrichten? Okay, schön. Du heißt Jonny, nicht? Tschüss, Jonny.«
    Jonny hatte die Nachricht weitergegeben, und Jimmy hatte nur genickt und gemeint, er wisse Bescheid. Danach war Geld aus Mamas Portmonee verschwunden, und es hatte Riesenärger gegeben.
    Inzwischen war Jimmy nicht mehr so oft zu Hause. Es war irgendwie kein Platz mehr für ihn, seit die letzte kleine Schwester hinzugekommen war. Jonny hatte bereits zwei kleinere Geschwister, und es war nicht geplant gewesen, dass es noch mehr werden sollten. Aber dann hatte Mama einen neuen Macker kennen gelernt und … tja … so war es eben.
    Jonny und Jimmy hatten jedenfalls den gleichen Vater. Er arbeitete mittlerweile auf einer Ölplattform in Norwegen und hatte nicht nur angefangen, regelmäßig Unterhalt zu zahlen, sondern sogar mehr geschickt, als er eigentlich musste, um ein wenig Wiedergutmachung zu leisten. Mama pries ihn in den höchsten Tönen, ja, wenn sie betrunken war, hatte sie seinetwegen sogar zwei, drei Mal Tränen vergossen und erklärt, einem solchen Mann würde sie nie mehr begegnen. Solange Jonny zurückdenken konnte, war Geldmangel zum ersten Mal kein ständiges Gesprächsthema mehr bei ihnen zu Hause.
    Jetzt saßen sie in der Pizzeria am Platz vor dem Einkaufszentrum von Blackeberg. Jimmy hatte vormittags zu Hause vorbeigeschaut und sich ein bisschen mit Mama gestritten, danach waren er und Jonny ausgegangen. Jimmy verteilte Krautsalat auf seiner Pizza, klappte sie zusammen, nahm die große Rolle in beide Hände

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