So finster die Nacht
den kleinen Lagerraum hinter der Fleischtheke zurück. Wenn man Berit erst einmal in Schwung kommen ließ, würde sie zu einer langen Litanei über die Leiden der Menschen im Allgemeinen und über die Bosheit in der heutigen Gesellschaft im Besonderen ausholen.
Virginia setzte sich auf einen Stuhl zwischen der Waage und der Tür zum Kühlhaus. Der Zwischenraum bestand aus wenigen Quadratmetern, war jedoch der schönste Platz im Geschäft. Hierher verlor sich kein Sonnenlicht. Sie blätterte in den Zeitungen, und in einer kleineren Notiz im Lokalteil von Dagens Nyheter las sie:
Überfall auf Frau in Blackeberg
Donnerstagnacht wurde im Stockholmer Vorort Blackeberg eine fünfzigjährige Frau überfallen. Ein Passant griff ein, und dem Täter, einer jungen Frau, gelang die Flucht. Das Motiv für die Körperverletzung ist unbekannt. Die Polizei untersucht zurzeit einen möglichen Zusammenhang zu anderen Gewaltverbrechen in den westlichen Vororten im Laufe der letzten Wochen. Die fünfzigjährige Frau soll dem Vernehmen nach nur leicht verletzt sein.
Virginia ließ die Zeitung sinken. Wie seltsam, so über sich selbst zu lesen. »Fünfzigjährige Frau«, »Passant«, »leichtverletzt«. Was sich alles hinter diesen Worten verbarg.
»Einen möglichen Zusammenhang«. Ja, Lacke war der festen Überzeugung gewesen, dass sie von dem gleichen Kind attackiert worden war, das bereits Jocke getötet hatte. Er hatte sich in die Zunge beißen müssen, um es im Krankenhaus nicht auszuplaudern, als eine Polizistin und ein Arzt am Freitagvormittag nochmals ihre Verletzungen untersuchten.
Er hatte vor, es zu erzählen, wollte aber zuvor Gösta informieren und glaubte, dass Gösta die Sache nun anders sehen würde, nachdem auch Virginia etwas zugestoßen war.
Sie hörte ein Rascheln und schaute sich um. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie erkannte, dass sie selber so zitterte, dass die Zeitung in ihrer Hand Geräusche erzeugte. Sie legte die Zeitungen auf die Ablage über den Kitteln, ging zu Berit hinaus.
»Kann ich was tun?«
»Aber meine Liebe, willst du wirklich?«
»Ja, es ist besser, wenn ich etwas tue.«
»Ich verstehe. Dann wieg doch Krabben ab. Halbkilotüten. Aber solltest du nicht lieber …?«
Virginia schüttelte den Kopf und kehrte in den Lagerraum zurück. Sie zog einen weißen Kittel an und setzte sich eine Haube auf, holte einen Karton Krabben aus dem Kühlhaus, zog eine Plastiktüte über die Hand und begann abzuwiegen. Sie griff mit der Hand, die in der Plastiktüte steckte, in den Krabbenkarton, füllte die Tüten, wog ab. Es war eine langweilige, mechanische Arbeit, und ihre rechte Hand fühlte sich bereits nach der vierten Tüte erfroren an. Aber sie tat etwas, und das gab ihr etwas Zeit zum Nachdenken.
Nachts im Krankenhaus hatte Lacke etwas wirklich Seltsames gesagt: Das Kind, das sie überfallen hatte, sei kein Mensch gewesen. Es habe Reißzähne und Krallen gehabt.
Virginia hatte dies natürlich als die Vision eines Betrunkenen oder als eine Halluzination abgetan.
Sie selbst konnte sich an den Überfall kaum erinnern. Eines aber konnte sie akzeptieren: Wer immer sie angesprungen haben mochte, war für einen Erwachsenen viel zu leicht gewesen, sogar fast noch zu leicht, um ein Kind zu sein. Wenn überhaupt, dann ein sehr kleines Kind. Fünf, sechs Jahre alt. Sie wusste noch, dass sie sich mit dem Gewicht auf dem Rücken aufgerichtet hatte. Danach war alles schwarz gewesen, bis sie umgeben von den ganzen Jungs, ausgenommen Gösta, in ihrer eigenen Wohnung aufwachte.
Sie verschloss eine fertige Tüte mit einer Klemme, griff nach der nächsten, kippte einige Hand voll hinein. Vierhundertdreißig Gramm. Fügte sieben Krabben hinzu. Fünfhundertzehn.
Das bisschen schenken wir Ihnen doch gern.
Sie betrachtete ihre Hände, die unabhängig von ihrem Gehirn arbeiteten. Hände. Mit langen Nägeln. Scharfe Zähne. Was war das? Lacke hatte es unverblümt ausgesprochen: ein Vampir. Virginia hatte nur zaghaft gelacht, damit die Wunde an ihrer Wange nicht aufging, aber Lacke hatte nicht einmal gelächelt.
»Du hast ihn nicht gesehen.«
»Aber Lacke … so etwas gibt es doch gar nicht.«
»Mag sein. Aber was war es dann?«
»Ein Kind. Mit einer seltsamen Fantasie.«
»Das sich die Nägel hat wachsen lassen? Dessen Zähne geschliffen worden sind? Den Zahnarzt würde ich gerne sehen, der …«
»Lacke, es war dunkel. Du warst betrunken, es …«
»Es war dunkel. Ich war betrunken. Aber ich habe
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