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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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halten, um nicht die Schneedecke zu durchstoßen. Sie bewegten sich heimwärts, während sich die Dämmerung herabsenkte.
    *
    Als Lacke die Treppen vor dem Einkaufszentrum hinunterging, hatte er sich eine Schachtel Pralinen in den Hosenbund geschoben. Er klaute nur ungern etwas, aber Geld hatte er keines, und er wollte Virginia gerne etwas schenken. Eigentlich hätte er wohl auch Rosen dabeihaben sollen, aber versuch mal, in einem Blumengeschäft etwas zu klauen.
    Es war schon dunkel, und als er zu dem Hang gelangte, der zur Schule hinabführte, zögerte er, schaute sich um, scharrte mit dem Fuß im Schnee und fand einen faustgroßen Stein, den er lostrat, in die Tasche steckte und mit der Hand umschloss. Er glaubte zwar nicht, dass der Stein ihm gegen das helfen würde, was er gesehen hatte, aber das Gewicht und die Kühle des Steins schenkten ihm wenigstens ansatzweise ein Gefühl von Sicherheit.
    Seine Erkundigungen auf den einzelnen Hinterhöfen der näheren Umgebung waren ergebnislos geblieben, wenn man einmal von den zahlreichen wachsamen, misstrauischen Blicken von Eltern absah, die mit ihren Kleinen Schneemänner bauten. Ein böser Onkel.
    Erst als er den Mund öffnete, um mit einer Frau zu sprechen, die Teppiche klopfte, wurde ihm bewusst, wie eigenartig sein Verhalten erscheinen musste. Die Frau hatte innegehalten und sich mit dem Teppichklopfer, den sie wie eine Waffe in der Hand hielt, zu ihm umgewandt.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Lacke. »… Ja also, ich wollte fragen … ich suche nach einem Kind.«
    »Aha?«
    Oh ja. Er hatte selber gehört, wie das klang, was ihn nur noch mehr verunsichert hatte. »Ja, das Mädchen ist … verschwunden. Ich wollte fragen, ob es vielleicht jemand gesehen hat.«
    »Ist es Ihr Kind?«
    »Nein, aber …«
    Abgesehen von ein paar Jugendlichen hatte er es aufgegeben, mit Leuten zu sprechen, die er nicht kannte. Oder doch wenigstens vom Sehen her kannte. Er begegnete einigen Bekannten, aber keiner von ihnen hatte etwas gesehen. Wer suchet, der findet, sicher. Aber damit das zutraf, musste man wohl auch wissen, wonach man eigentlich suchte.
     
    Er gelangte auf den Parkweg Richtung Schule, warf einen Blick auf Jockes Brücke.
    Die Nachricht war in der Zeitung von gestern in großen Artikeln verbreitet worden, nicht zuletzt wohl auch, weil man die Leiche auf so makabere Art gefunden hatte. Ein ermordeter Trinker war ansonsten eher unspektakulär, aber man hatte sich auf die Kinder gestürzt, die zugesehen hatten, die Feuerwehr, die das Eis aufsägen musste, und so weiter. Neben dem Artikel hatte die Zeitung Jockes Passfoto abgedruckt, auf dem er gelinde gesagt aussah wie ein Massenmörder.
    Lacke ging an der düsteren Backsteinfassade der Blackebergschule vorbei, an den hohen breiten Treppen, die ihm wie der Eingang zu einem Gerichtsgebäude oder zur Hölle vorkamen. Neben den untersten Treppenstufen hatte jemand »Iron Maiden« an die Wand gesprayt, was immer das bedeuten sollte. Vielleicht war es irgendeine Musikgruppe.
    Er passierte den Parkplatz, trat auf die Björnsonsgatan. Normalerweise hätte er nun den Platz hinter der Schule schräg überquert, aber dort war es … dunkel. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie dieses Wesen in den Schatten lauerte. Er blickte zu den Wipfeln der hohen Kiefern hinauf, von denen die Straße gesäumt wurde. Ein paar dunklere Klumpen im Geäst. Vermutlich Elsternester.
    Es ging doch nicht nur darum, wie das Wesen aussah, es ging auch darum, wie es angegriffen hatte. Er hätte vielleicht, vielleicht noch akzeptieren können, dass es für die Zähne und die Krallen eine natürliche Erklärung gab, wenn da nicht dieser Sprung aus dem Baum gewesen wäre. Ehe sie Virginia nach Hause trugen, hatte er zu dem Baum aufgeblickt. Der Ast, von dem das Wesen herabgesprungen sein musste, hing ungefähr fünf Meter über dem Erdboden.
    Sich fünf Meter tief zielgenau auf den Rücken eines Menschen herabfallen zu lassen; wenn man das Wort »Zirkusartist« zu den anderen Dingen hinzufügte, um eine »natürliche« Erklärung zu bekommen, dann mochte es vielleicht angehen. Aber wenn man das alles zusammennahm, war das Ergebnis ebenso ungeheuerlich wie das, was er zu Virginia gesagt hatte und jetzt zutiefst bereute.
    Verdammt …
    Er zog die Pralinenschachtel aus der Hose. Hatte seine Körperwärme die Schokolade bereits schmelzen lassen? Er schüttelte prüfend die Schachtel. Nein. Es raschelte in ihr. Die Pralinen klebten nicht aneinander. Er

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