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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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wurden.
    Er wusste genau, wie es enden würde.
    In einer Stunde oder so würde die Flasche geleert sein und Janne nach Hause gehen. Daraufhin würde Papa noch eine Zeit lang in der Küche umhergehen, auf und ab laufen, bis ihm schließlich einfiel, dass er mit Oskar reden musste.
    Er würde in Oskars Zimmer kommen und nicht mehr Papa sein, sondern nur noch eine nach Alkohol stinkende, schwerfällige Masse aus Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Sentimentalität. Er würde wollen, dass Oskar wieder aufstand und sich ein bisschen mit ihm unterhielt. Darüber, wie sehr er Mama immer noch liebte, wie sehr er Oskar liebte, und liebte Oskar ihn auch? Er würde über all die Demütigungen lallen, die man ihm angetan hatte, und sich schlimmstenfalls erregen und wütend werden.
    Er schlug nie, oh nein. Aber was in Momenten wie diesen mit seinen Augen geschah, war das absolut Schrecklichste, das Oskar sich vorstellen konnte. Es gab in diesen Augenblicken keine Spur mehr von Papa. Nur noch ein Monster, das irgendwie in seinen Körper gekrochen war und dort die Oberhand gewonnen hatte.
    Der Mensch, zu dem Papa wurde, wenn er betrunken war, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Mann, der er in nüchternem Zustand war. Daher war es ein tröstlicher Gedanke, sich Papa als Werwolf vorzustellen und zu glauben, dass er tatsächlich ein vollkommen anderes Wesen in seinem Körper barg. Wie der Mond im Werwolf den Wolf hervorlockte, so lockte der Schnaps in Papa dieses Wesen hervor.
    Oskar griff nach einem Winnie Puh-Heft, versuchte zu lesen, konnte sich nicht konzentrieren. Er fühlte sich ausgeliefert. In einer Stunde würde er mit dem Monster allein sein. Und er konnte nichts anderes tun als warten.
    Er schmiss das Winnie Puh-Heft an die Wand, stand vom Bett auf, holte sein Portmonee. Ein Fahrkartenheft und zwei Zettel von Eli. Er legte Elis Zettel nebeneinander auf das Bett.
    »FENSTER, DEN TAG LASS EIN, DAS LEBEN LASS HINAUS!«
    Das Herz.
    »BIS HEUTE ABEND. ELI.«
    Und der zweite.
    »MEIN LEBEN HEISST JETZT GEHEN, MEIN BLEIBEN TOD. ELI.«
    Es gibt keine Vampire.
    Die Nacht war eine schwarze Hülle vor dem Fenster. Oskar schloss die Augen und dachte an den Weg nach Stockholm, passierte in rasender Fahrt Häuser, Höfe, Felder. Flog auf den Hof in Blackeberg, zu ihrem Fenster hinein, und dort war sie.
    Er öffnete die Augen, blickte zum schwarzen Rechteck des Fensters. Da draußen.
    Die Djup-Brüder hatten ein Lied angestimmt, in dem es um ein Fahrrad ging, das einen Platten hatte. Papa und Tanne lachten über etwas, aber viel zu laut. Irgendetwas kippte um.
    Welches Monster wählst du?
    Oskar steckte Elis Zettel in das Portmonee zurück und zog sich an. Er schlich in den Flur hinaus, zog Schuhe, Jacke, Mütze an. Sekundenlang rührte er sich im Hausflur nicht vom Fleck, lauschte den Geräuschen, die aus dem Wohnzimmer drangen.
    Er drehte sich um und wollte schon gehen, als sein Blick auf etwas fiel und er innehielt.
    Auf dem Schuhregal im Flur standen seine alten Gummistiefel, die ihm gepasst hatten, als er vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen war. Sie hatten dort gestanden, solange er denken konnte, obwohl es niemanden gab, dem sie gepasst hätten. Neben ihnen standen Papas riesige Tretorngummistiefel, der eine war an der Ferse mit einem dieser Flicken abgedichtet, wie man sie auch für Fahrradschläuche benutzte.
    Warum hat er sie aufbewahrt?
    Oskar verstand. Zwei Menschen wuchsen mit dem Rücken zu ihm aus den Stiefeln heraus. Papas breites Kreuz und neben ihm Oskars schmales. Oskars Arm hochgestreckt, seine Hand in Papas. Sie gingen in ihren Stiefeln über einen Fels, wollten vielleicht Himbeeren pflücken, vielleicht …
    Er schluchzte auf, bekam einen Kloß im Hals. Er streckte die Hand aus, um die kleinen Stiefel zu berühren. Im Wohnzimmer ertönte eine Lachsalve. Jannes verzerrte Stimme. Er imitierte bestimmt irgendwen, konnte so etwas gut.
    Oskars Finger schlossen sich um die Stiefelschäfte. Ja. Er wusste zwar nicht warum, aber es erschien ihm richtig. Vorsichtig öffnete er die Haustür, schloss sie hinter sich. Die Nacht war eiskalt, der Schnee ein Meer aus kleinen Diamanten im Mondlicht.
    Die Stiefel fest im Griff, ging er zur Landstraße.
    *
    Der Wächter schlief. Ein junger Polizeibeamter, der eingesetzt wurde, seit das Pflegepersonal dagegen protestiert hatte, dass ununterbrochen eine Person abgestellt werden musste, um Håkan zu bewachen. Die Zimmertür war allerdings mit einem codierten Schloss

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