So finster die Nacht
Wohnzimmer. Papa meinte zu Oskar, er solle doch »mitkommen und sich was unterhalten«, und Oskar sagte, »später vielleicht«. Er blieb vor dem Ofen sitzen und schaute ins Feuer. Die Hitze umschloss sein Gesicht. Er stand auf, holte den Collegeblock vom Küchentisch, riss unbenutzte Blätter heraus und verbrannte sie. Als der ganze Block mit Deckblatt und allem verkohlt war, holte er die Bleistifte und verbrannte auch sie.
*
Um diese Zeit, spätabends, herrschte eine ganz spezielle Atmosphäre im Krankenhaus. Maud Carlberg saß an der Information und ließ den Blick über die fast völlig verwaiste Eingangshalle schweifen. Cafeteria und Kiosk waren geschlossen; nur vereinzelt bewegten sich Menschen wie Gespenster unter der hohen Decke.
Abends stellte sie sich gerne vor, dass sie, nur sie allein das riesige Gebäude bewachte, das Danderyds Krankenhaus war. Das stimmte natürlich nicht. Wenn ein Problem auftauchte, brauchte sie nur einen Knopf zu drücken, und innerhalb von höchstens drei Minuten war ein Kollege vom Sicherheitsdienst bei ihr.
Sie hatte sich ein Spiel ausgedacht, um sich während der späten Abendstunden die Zeit zu vertreiben.
Sie überlegte sich einen Beruf, einen Wohnsitz und einen rudimentären persönlichen Hintergrund für eine Person. Eventuell auch noch eine Krankheit. Dann übertrug sie das alles auf den ersten Menschen, der zu ihr kam. Das Ergebnis war oftmals … amüsant.
So beschwor sie in Gedanken beispielsweise einen Piloten herauf, der auf der Stockholmer Götgatan wohnte und zwei Hunde besaß, um die sich eine Nachbarin kümmerte, wenn der Pilot unterwegs war. Die Nachbarin war nämlich heimlich in den Piloten verliebt. Das Problem des Piloten bestand darin, dass er oder auch sie kleine grüne Männchen mit roten Zipfelmützen zu sehen meinte, die zwischen den Wolken umherflogen, wenn er oder sie flog.
Okay. Daraufhin hieß es nur noch warten.
Vielleicht kam nach einer Weile eine ältere Frau mit einem verlebten Gesicht. Eine Pilotin. Sie hatte heimlich viel zu viele von den kleinen Flaschen mit hochprozentigen Getränken getrunken, die man an Bord von Flugzeugen bekommt, daraufhin die grünen Männlein gesehen, war gefeuert worden. Jetzt hockte sie tagein, tagaus mit ihren Hunden zu Hause. Der Nachbar war allerdings immer noch in sie verliebt.
So gingen Mauds Gedanken.
Manchmal tadelte sie sich wegen ihres Spiels, weil es sie daran hinderte, die Menschen wirklich ernst zu nehmen. Aber sie konnte einfach nicht davon lassen. Derzeit wartete sie auf einen Priester, dessen ganze Leidenschaft protzigen Sportwagen galt und der es liebte, Anhalter in der Absicht mitzunehmen, sie zu bekehren.
Mann oder Frau? Alt oder jung? Wie sieht so jemand aus?
Maud legte das Kinn in die Hände, blickte zum Eingang. Heute Abend war nicht viel los. Die Besuchszeit war vorüber, und die neuen Patienten, die mit den üblichen Samstagabendverletzungen kamen, bei denen nicht selten Alkohol eine gewisse Rolle gespielt hatte, landeten alle in der Ambulanz.
Die Drehtür setzte sich in Bewegung. Hier kam vielleicht ihr Sportwagenpriester.
Nein, doch nicht. Es war einer dieser Fälle, in denen sie aufgeben musste. Es war ein Kind. Ein feingliedriges kleines … Mädchen von zehn, zwölf Jahren. Maud begann, sich eine Ereigniskette auszumalen, die dazu führen würde, dass dieses Kind am Ende besagter Priester wurde, hörte jedoch gleich wieder damit auf. Das kleine Mädchen sah so unglücklich aus.
Das Kind ging zu der großen Übersichtskarte über das Krankenhaus, auf der verschiedenfarbige Linien die Wege markierten, denen man folgen sollte, um zu bestimmten Stellen zu gelangen. Es gab nur wenige Erwachsene, die mit dieser Karte zurechtkamen, wie sollte es da einem Kind gelingen?
Maud lehnte sich vor und rief leise. »Kann ich dir helfen?«
Das Mädchen drehte sich zu ihr um und lächelte scheu, kam zur Information. Seine Haare waren nass, einzelne Schneeflocken, die noch nicht geschmolzen waren, setzten sich glitzernd von ihrem Schwarz ab. Es schaute nicht zu Boden, wie Kinder dies häufig in fremder Umgebung tun, nein, die dunklen, traurigen Augen blickten unverwandt in Mauds, während es sich zu ihrem Informationsschalter bewegte. Ein Gedanke, so deutlich wie eine akustische Wahrnehmung, blitzte in Mauds Kopf auf.
Ich muss dir etwas geben. Was soll ich dir nur geben?
Dümmlich begann sie in Gedanken auf die Schnelle zu rekapitulieren, was sie in ihren Schreibtischschubladen aufbewahrte.
Weitere Kostenlose Bücher