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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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wahnsinnig.
    Die Tatsache, dass der Mann überhaupt noch lebte, war nicht mehr und nicht weniger als ein Wunder. Kein Wunder von der Art, die den Vatikan zum Weihrauchschwenken veranlasst hätte, aber nichtsdestotrotz ein Wunder. Vor seinem Sturz aus dem zehnten Stockwerk war er ein Pflegefall gewesen, nun war er auf den Beinen und lief herum und tat noch mehr als das.
    Aber es konnte ihm unmöglich gut gehen. Es war zwar etwas wärmer geworden, aber es waren nach wie vor nur wenige Grad über null, und der Mann war nur mit einem Krankenhausleibchen bekleidet. Soweit die Polizei wusste, hatte er keine Mithelfer, weshalb es ihm unmöglich sein würde, sich mehr als höchstens ein paar Stunden im Wald versteckt zu halten.
    Der Anruf von Benny Melin war fast eine Stunde, nachdem er den Mann auf der Tranebergbrücke gesehen hatte, eingegangen. Aber nur wenige Minuten später hatte sich eine ältere Frau bei der Polizei gemeldet.
    Sie war mit ihrem Hund auf einem morgendlichen Spaziergang gewesen, als sie einen Mann in Krankenhauskleidung in der Nähe der Stallungen von Åkeshov gesehen hatte, wo die Schafherde des Königs den Winter über untergebracht war. Sie war auf der Stelle heimgekehrt und hatte die Polizei angerufen, weil ihr der Gedanke gekommen war, dass die Schafe unter Umständen in Gefahr sein könnten.
    Zehn Minuten später war der erste Streifenwagen vor Ort gewesen, und die Beamten hatten als Erstes nervös und mit gezogenen Waffen die Ställe durchsucht.
    Die Schafe waren unruhig geworden, und noch ehe die Polizisten den ganzen Stall durchsucht hatten, war er eine brodelnde Masse aus erregten, wolligen Körpern, lautstarkem Blöken und fast menschlich klingenden Schreien, die wiederum weitere Polizisten anlockten.
    Bei der Durchsuchung der Pferche gelangte eine ganze Reihe von Schafen auf den Mittelgang, und als die Polizisten endlich sicher sein konnten, dass der Mann nicht in den Ställen war, und das Gebäude mit klingelnden Ohren verließen, schlüpfte ein Widder durch die Stalltür ins Freie. Ein älterer Beamter mit Bauern in der Verwandtschaft warf sich auf den Widder, packte ihn bei den Hörnern und schleifte ihn in die Ställe zurück.
    Erst nachdem er das Tier in seinen Pferch zurückbugsiert hatte, wurde ihm bewusst, dass das grelle Flimmern, das er während seines Eingreifens aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, ein Blitzlichtgewitter gewesen war. Er gelangte zu der fälschlichen Einschätzung, das Thema sei zu ernst, als dass die Presse ein solches Bild benutzen würde. Kurz darauf wurde jedoch außerhalb des Suchgebiets ein Raum für die wartenden Journalisten eingerichtet.
    Inzwischen war es halb acht, und das Morgengrauen schlich sich unter tropfenden Bäumen heran. Die Jagd auf den einsamen Irren war gut organisiert und in vollem Gange. Man ging davon aus, ihn noch vor Mittag gefasst zu haben.
    Oh ja, es sollten noch einige Stunden vergehen, in denen die Wärmekameras des Hubschraubers keinerlei Ergebnisse lieferten, die sekretsensiblen Schnauzen der Hunde nichts fanden, bis ernsthaft darüber spekuliert wurde, dass der Mann vielleicht gar nicht mehr lebte und man auf der Suche nach einer Leiche war.
    *
    Als das erste bleiche Licht der Morgendämmerung zwischen den Lamellen der Jalousien hereinfiel und Virginias Handfläche wie eine glühend heiße Glühbirne traf, wollte sie nur noch eins: sterben. Dennoch zog sie instinktiv die Hand fort und zog sich tiefer in das Zimmer zurück.
    Ihre Haut war an mehr als dreißig Stellen aufgeschnitten. Die ganze Wohnung war voller Blut.
    Im Laufe der Nacht hatte sie mehrmals Arterien geöffnet, um zu trinken, aber nicht alles aufsaugen, aufschlürfen können, was herausfloss. Das Blut war auf dem Fußboden, auf Tischen und Stühlen gelandet. Der große Webteppich im Wohnzimmer sah aus, als hätte man auf ihm ein Reh ausgeweidet.
    Befriedigung und Erleichterung wurden mit jeder neuen Wunde, die sie öffnete, mit jedem Schluck, den sie von ihrem eigenen, immer dünner werdenden Blut nahm, kleiner. Als es dämmerte, war sie eine wimmernde Masse aus Abstinenz und Angst. Angst vor dem, was getan werden musste, wenn sie weiterleben wollte.
    Die Erkenntnis hatte sich Schritt für Schritt eingestellt, war ihr schließlich zur Gewissheit geworden. Das Blut eines anderen Menschen würde sie … gesund machen. Und sie war nicht fähig, sich das Leben zu nehmen. Vermutlich war es nicht einmal möglich; die Wunden, die sie sich mit dem Obstmesser zufügte,

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