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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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heilten unnatürlich schnell. Wie tief und fest sie auch schnitt, eine Minute später blutete es bereits nicht mehr. Schon nach einer Stunde hatte die Vernarbung eingesetzt.
    Außerdem …
    Sie hatte etwas gefühlt.
    Es war gegen Morgen gewesen, während sie auf einem Küchenstuhl saß und an einer Wunde in der Armbeuge saugte, der zweiten an der gleichen Stelle, als sie in die Tiefe ihres Körpers abtauchte und sie erblickte.
    Die Seuche.
    Virginia sah sie natürlich nicht, aber ihr offenbarte sich plötzlich eine allumfassende Wahrnehmung dessen, was sie war. Als bekäme man als Schwangere ein Ultraschallbild seines eigenen Bauchs zu Gesicht und sähe auf dem Schirm, womit dieser Bauch gefüllt war; nicht mit einem Kind, sondern einer großen, sich windenden Schlange. Dies war es, was man in sich trug.
    Denn in diesem Moment hatte sie gesehen, dass diese Seuche ein eigenes Leben führte, einen Antrieb hatte, der völlig unabhängig von ihrem Körper war. Dass diese Krankheit auch dann noch weiterleben würde, wenn sie es nicht tat. Eine Mutter würde beim Anblick einer solchen Ultraschallaufnahme schockiert sterben, aber niemand würde es bemerken, da die Schlange es übernähme, statt ihrer den Körper zu steuern.
    Selbstmord war folglich sinnlos.
    Das Einzige, was die Seuche zu fürchten schien, war Sonnenlicht. Das bleiche Licht auf ihrer Hand war schmerzvoller gewesen als noch die tiefsten Wunden.
    Lange saß sie zusammengekauert in einer Ecke des Wohnzimmers und sah das Licht des Morgengrauens ein Gitter auf den fleckigen Teppich werfen. Sie dachte an ihren Enkel Ted, der immer zu dem Fleck krabbelte, der von der Nachmittagssonne auf dem Fußboden beschienen wurde, sich hinlegte und mit dem Daumen im Mund in der Sonnenpfütze einschlief.
    Seine nackte, samtene Haut, diese dünne Haut, man bräuchte sie nur –
    WAS DENKE ICH DA!
    Virginia zuckte zusammen, stierte ins Leere. Sie hatte Ted gesehen, und sie hatte sich vorgestellt, dass –
    NEIN!
    Sie schlug sich gegen den Kopf, schlug immer weiter, bis das Bild zersplittert war. Aber sie durfte ihn nie wieder sehen, durfte nie wieder jemanden sehen, den sie liebte.
    Ich darf nie mehr jemandem begegnen, den ich liebe.
    Virginia zwang ihren Körper, sich aufzurichten, bewegte sich langsam zu dem Lichtgitter. Die Krankheit protestierte und wollte sie zurückziehen, aber sie war stärker, hatte einstweilen noch die Kontrolle über ihren Körper. Das Licht brannte in den Augen, die Ränder des Gitters brannten auf der Hornhaut wie glühende Stahldrähte.
    Brenne! Verbrenne!
    Ihr rechter Arm war von Narben und getrocknetem Blut bedeckt. Sie streckte ihn ins Licht.
    Sie hätte es sich niemals vorstellen können.
    Was das Licht am Samstag mit ihr angestellt hatte, war ein sanftes Streicheln gewesen. Nun wurde die Flamme eines Schweißbrenners entzündet und auf ihre Haut gerichtet. Nach einer Sekunde wurde die Haut kreideweiß. Nach zwei Sekunden begann sie zu rauchen. Nach drei Sekunden bildete sich eine Blase, wurde schwarz und platzte zischend auf. In der vierten Sekunde zog sie den Arm zurück und kroch schluchzend ins Schlafzimmer.
    Der Gestank verbrannten Fleisches verpestete die Luft, und sie wagte es nicht, ihren Arm anzusehen, als sie ins Bett robbte.
    Ruhe.
    Aber das Bett …
    Trotz der heruntergelassenen Jalousien war zu viel Licht im Schlafzimmer. Selbst wenn sie sich zudeckte, fühlte sie sich auf dem Bett schutzlos ausgeliefert. Ihre Ohren nahmen noch jedes kleinste Morgengeräusch im Haus wahr, und jeder Laut war eine potenzielle Bedrohung. Über ihr ging jemand über einen Fußboden. Sie zuckte zusammen, drehte den Kopf in Richtung des Geräuschs, lauschte. Eine Schublade wurde herausgezogen, das Klirren von Metall in der Etage über ihr.
    Teelöffel.
    Sie wusste angesichts der Sprödheit des Geräusches, dass es … Teelöffel waren. Sie hatte die mit Samt ausgeschlagene Schatulle mit silbernen Teelöffeln vor Augen, die einst ihrer Großmutter gehört hatte und die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, als diese ins Altersheim kam. Sie hatte damals die Schatulle geöffnet, die Löffel betrachtet und erkannt, dass sie noch nie benutzt worden waren.
    Daran dachte Virginia jetzt, als sie aus dem Bett zu Boden glitt, die Decke mitzog, zu dem zweitürigen Kleiderschrank kroch, seine Türen öffnete. Auf dem Boden des Schranks lagen eine zweite Decke und ein paar Laken.
    Sie hatte Trauer empfunden, als sie die Löffel musterte. Die Löffel, die

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