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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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sie auf Straßen und Plätzen, stehen ihnen fragend gegenüber und sagen uns: Was können wir tun?«
    Nie zuvor in seinem ganzen Leben war Tommy so langweilig gewesen. Der Gottesdienst dauerte erst eine halbe Stunde, und er dachte, dass es spaßiger gewesen wäre, wenn er auf einem Stuhl gesessen und die Wand angestarrt hätte.
    »Gesegnet sei« und »Jubelgesang« und »Die Freude des Herrn«, aber warum saßen dann alle da und glotzten, als würden sie sich ein Qualifikationsspiel zwischen Bulgarien und Rumänien anschauen? Es bedeutete ihnen nichts, was sie in dem Buch lasen, wovon sie sangen. Auch dem Pfarrer schien es nichts zu bedeuten. Das Ganze war nur etwas, das er erledigen musste, um sein Gehalt zu bekommen.
    Jedenfalls hatte jetzt die Predigt begonnen.
    Wenn der Pfarrer genau diese Stelle in der Bibel ansprach, die Tommy gelesen hatte, dann würde er es tun. Sonst nicht.
    Der Pfaffe darf selber entscheiden.
    Tommy griff in seine Tasche. Die Sachen lagen bereit, und das Taufbecken war nur drei Meter von seinem Platz in der hintersten Bankreihe entfernt. Seine Mutter saß ganz vorn, vermutlich um Staffan anstrahlen zu können, während er seine sinnlosen Lieder sang, die Hände locker vor dem Polizeischwanz gefaltet.
    Tommy biss die Zähne zusammen. Er hoffte, der Pfarrer würde es sagen.
    »Wir erblicken Orientierungslosigkeit in ihren Augen, die Orientierungslosigkeit eines Menschen, der sich verirrt hat und nicht mehr heimfindet. Wenn ich einen solchen jungen Menschen sehe, rufe ich mir stets den Auszug Israels aus Ägypten ins Gedächtnis.«
    Tommy erstarrte. Aber der Pfarrer würde vielleicht nicht genau darauf eingehen. Vielleicht würde er über das Rote Meer sprechen. Trotzdem holte er schon einmal die Sachen aus der Tasche; ein Feuerzeug und ein Zündbrikett. Seine Hände zitterten.
    »Denn so müssen wir diese jungen Menschen betrachten, die uns manches Mal verständnislos zurücklassen. Sie durchwandern eine Wüste aus unbeantworteten Fragen und unklaren Zukunftsaussichten. Aber es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Volk Israel und der Jugend von heute …«
    Jetzt sag’s schon …
    »Das Volk Israel hatte jemanden, der es führte. Sie erinnern sich sicherlich an die Worte der Heiligen Schrift. ›Und der Herr zog vor ihnen her, des Tages in einer Wolkensäule, dass er sie den rechten Weg führte, und des Nachts in einer Feuersäule, dass er ihnen leuchtete.‹ Es ist diese Wolkensäule, diese Feuersäule, an der es den Jugendlichen von heute mangelt und …«
    Der Pfarrer schaute auf seine Blätter hinab.
    Tommy hatte das Brikett bereits angezündet, hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Spitze brannte mit einer reinen, blauen Flamme, die zu seinen Fingern herableckte. Als der Pfarrer in seine Papiere blickte, nutzte er die Gelegenheit.
    Er ging in die Hocke, machte einen Schritt aus der Bank heraus, streckte den Arm aus, so weit es ging, warf das Zündbrikett in einem Bogen in das Taufbecken und zog sich rasch wieder in seine Bank zurück. Keiner hatte es bemerkt.
    Der Pfarrer blickte wieder auf.
    »… und es ist unsere Schuldigkeit als Erwachsene, diese Wolkensäule, dieser Leitstern für die jungen Menschen zu sein. Wo sonst sollen sie ihn finden? Und die Kraft hierzu können wir aus den Taten des Herrn schöpfen …«
    Weißer Rauch stieg aus dem Taufbecken auf, und Tommy nahm bereits den vertrauten, süßen Duft wahr.
    Er hatte das sicher schon tausend Mal gemacht; Salpetersäure und Zucker angezündet. Aber nur selten in solchen Mengen und nie zuvor in einem Gebäude. Er war gespannt, wie der Effekt sein würde, wenn es keinen Wind gab, der den Rauch zerstreute. Er flocht die Finger ineinander, presste die Hände fest zusammen.
     
    Bror Ardelius, stellvertretender Pfarrer in der Gemeinde Vällingby, sah den Rauch als Erster. Er sah darin, was es war: Rauch aus dem Taufbecken. Sein Leben lang hatte er auf ein Zeichen des Herrn gewartet, und es war unzweifelhaft so, dass er, als er die erste Rauchschwade aufsteigen sah, für einen kurzen Moment dachte:
    Oh Herr. Endlich.
    Doch der Gedanke verschwand sofort wieder, und dass ihn das Gefühl eines Wunders so schnell verließ, nahm er als Beleg dafür, dass dies kein Wunder, kein Zeichen war. Es war bloß das: Rauch, der aus dem Taufbecken aufstieg. Aber warum?
    Der Hausmeister, mit dem er sich nicht sonderlich gut verstand, hatte sich einen Scherz erlaubt. Das Wasser im Becken hatte angefangen … zu kochen …
    Sein

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