So finster die Nacht
wanderte über den Kleiderhaufen, verweilte auf den Kleiderschränken, von denen die gesamte gegenüberliegende Wand, bis zur Tür, verdeckt wurde: zwei doppeltürige Schränke und einer mit einer Tür.
Dort.
Er zog die Beine an, starrte auf die geschlossenen Schranktüren. Er wollte nicht. Hatte Bauchschmerzen. Ein stechender, brennender Schmerz in seinem Unterleib.
Er musste pinkeln.
Er stand vom Bett auf und ging zur Tür, ohne die Kleiderschränke aus den Augen zu lassen. Ganz ähnliche standen in seinem Zimmer, und er wusste, dass für sie durchaus genug Platz in ihnen war. Sie war dort, und er wollte sie nicht mehr sehen.
Auch die Lampe im Flur funktionierte. Er schaltete sie an und ging durch den kurzen Gang zum Badezimmer. Die Tür zum Badezimmer war abgeschlossen. Das Farbplättchen über der Klinke stand auf Rot. Er klopfte an die Tür.
»Eli?«
Kein Ton. Er klopfte erneut.
»Eli, bist du da?«
Nichts. Aber als er ihren Namen laut aussprach, fiel ihm wieder ein, dass er falsch war. Es war das Letzte, was sie gesagt hatte, als sie auf der Couch lagen. Dass sie eigentlich … Elias hieß. Elias. Ein Jungenname. War Eli ein Junge? Sie hatten sich doch … geküsst und im gleichen Bett geschlafen und …
Oskar presste seine Hände gegen die Badezimmertür, legte die Stirn auf die Hände. Er dachte. Dachte intensiv nach und begriff nicht, dass er in gewisser Weise akzeptieren konnte, dass sie ein Vampir war, es aber so viel schwerer sein sollte zu akzeptieren, dass sie womöglich ein Junge war.
Das Wort war ihm natürlich geläufig. Schwul. Schwule Sau. Jonny sagte so etwas. Dass es schlimmer war, schwul zu sein als …
Er klopfte erneut an die Tür.
»Elias?«
Als er den Namen aussprach, hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Nein. Daran würde er sich nie gewöhnen können. Sie … er hieß Eli. Aber das war alles zu viel für ihn. Ganz gleich, was Eli nun war, es war zu viel. Er konnte nicht mehr. Es war einfach nichts normal bei ihr.
Er hob die Stirn von den Händen, stemmte sich gegen den Wunsch zu pinkeln.
Schritte auf der Treppe und kurz darauf das Geräusch des Briefschlitzes, der geöffnet wurde, ein Plumpsen. Er entfernte sich vom Badezimmer, sah nach, was es war. Reklame.
»RINDERHACKFLEISCH 14.90/KG«
Grelle, rote Buchstaben und Ziffern. Er hob den Reklamezettel auf und begriff; presste das Auge gegen das Schlüsselloch, während draußen Schritte auf der Treppe hallten und es knallte, wenn Briefschlitze geöffnet wurden und wieder zufielen.
Eine halbe Minute später kam seine Mutter auf dem Weg nach unten an dem Schlüsselloch vorbei. Er sah nur ganz flüchtig ein bisschen von ihren Haaren, den Kragen ihres Mantels, aber er wusste, dass sie es war.
Wer sonst sollte seine Reklamezettel austeilen, wenn er nicht da war?
Die Reklamezettel fest umklammernd sank Oskar an der Wohnungstür zu Boden, lehnte die Stirn auf die Knie. Er weinte nicht. Der Drang zu pinkeln war ein brennender Ameisenhaufen in seinem Unterleib, der ihn irgendwie daran hinderte.
Aber immer wieder dachte er den einen Gedanken:
Es gibt mich nicht. Es gibt mich nicht.
*
Lacke hatte sich die ganze Nacht Sorgen gemacht. Seit er Virginia verlassen hatte, nagte eine schleichende Sorge in seinem Bauch. Am Samstagabend hatte er eine Stunde mit den Jungs beim Chinesen zusammengesessen und versucht, ihnen seine Befürchtungen nahezubringen, aber keiner von ihnen hatte auf ihn eingehen wollen. Lacke hatte gespürt, dass er unter Umständen die Fassung verlieren und Gefahr laufen würde, wahnsinnig wütend zu werden, und war gegangen.
Das war doch alles nur Mist mit den Jungs.
Sicher, das war nichts Neues, aber er hatte trotz allem geglaubt … tja, was zum Teufel hatte er eigentlich geglaubt?
Dass ich nicht allein damit stehe.
Dass außer ihm wenigstens einer von ihnen spürte, dass sich etwas verdammt Übles zusammenbraute.
Es wurde so viel gelabert, große Reden schwangen sie, vor allem Morgan, aber wenn es dann wirklich darauf ankam, war keiner von ihnen in der Lage, auch nur einen Finger krumm zu machen und etwas zu tun.
Nicht dass Lacke gewusst hätte, was er tun sollte, aber er machte sich wenigstens Sorgen. Auch wenn das nicht viel brachte. Er hatte den größten Teil der Nacht wachgelegen und zwischendurch immer wieder versucht, ein wenig in Dostojewskis Dämonen zu lesen, aber sofort wieder vergessen, was auf der vorigen Seite, im vorigen Satz passiert war, und schließlich aufgegeben.
Ein Gutes hatte
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