So finster die Nacht
es, so weit es eben ging, und lehnte sich hinaus.
Die Krankenschwester, mit der er vorhin gesprochen hatte, konnte Zigarettenrauch sicher noch auf zehn Kilometer Entfernung riechen. Er zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, bemühte sich, den Rauch so auszublasen, dass er nicht zum Fenster hineingeweht wurde, schaute zu den Sternen auf. In seinem Rücken ergriff Virginia von Neuem das Wort.
»Es war dieses Kind. Ich habe mich bei ihm angesteckt. Und dann … ist es einfach gewachsen. Ich weiß, wo es sitzt. Im Herzen. Im ganzen Herzen. Wie ein Krebsgeschwür. Ich habe keine Kontrolle darüber.«
Lacke blies eine Rauchwolke aus. Seine Stimme hallte zwischen den hohen Gebäuden ringsumher.
»Du sprichst doch jetzt mit mir. Du bist doch … wie immer.«
»Ich strenge mich an. Außerdem habe ich Blut bekommen. Aber ich kann mich auch fallen lassen. Ich kann mich jederzeit fallen lassen. Und dann übernimmt es die Kontrolle. Ich weiß es. Ich spüre es.« Virginia atmete mehrmals schwer, fuhr dann fort: »Du stehst da drüben. Ich sehe dich an. Und ich will … dich essen.«
Lacke wusste nicht, ob es die Nackensperre oder etwas anderes war, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er fühlte sich plötzlich schutzlos. Rasch drückte er die Zigarette an der Wand aus, schnippte die Kippe in einem Bogen fort, wandte sich wieder dem Raum zu.
»Das ist doch kompletter Wahnsinn.«
»Ja. Aber es ist so.«
Lacke verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einem gekünstelten Lachen fragte er: »Und was willst du von mir, was soll ich bitteschön tun?«
»Ich will, dass du … mein Herz zerstörst.«
»Wie bitte? Und wie?«
»Irgendwie.«
Lacke verdrehte die Augen.
»Hörst du, was du da sagst? Wie das klingt? Du hast sie doch nicht mehr alle. Soll ich etwa … einen Pflock in dich hineinschlagen, oder was?«
»Ja.«
»Nee, nee, nee. Das kannst du vergessen. Da wirst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen müssen.«
Lacke lachte, schüttelte den Kopf. Virginia beobachtete ihn, wie er dort im Zimmer auf und ab ging, die Arme noch immer vor der Brust verschränkt. Dann nickte sie still.
»Okay.«
Er ging zu ihr, nahm ihre Hand. Es erschien ihm unnatürlich, dass sie … fixiert war. Der Platz reichte nicht einmal, um beide Hände um ihre Hand zu legen. Sie war jedenfalls warm, drückte seine. Mit der freien Hand streichelte er ihr über die Wange.
»Soll ich dich wirklich nicht losmachen?«
»Nein. Es könnte … kommen.«
»Du wirst wieder gesund. Du wirst sehen, das kommt schon wieder in Ordnung. Ich habe doch nur dich. Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«
Ohne ihre Hand loszulassen, setzte er sich auf den Stuhl und begann zu erzählen, erzählte ihr alles. Die Briefmarken, der Löwe, Norwegen, das Geld. Das Häuschen, das sie haben würden. Schwedenrot. Er ließ seine Fantasie spielen und beschrieb ihr lang und breit, wie der Garten aussehen würde, welche Blumen sie pflanzen würden und dass man einen kleinen Tisch hinausstellen, eine Laube anlegen könnte, in der man sitzen und …
Irgendwann in seinem Redestrom begannen Tränen aus Virginias Augen zu laufen. Stille, durchsichtige Perlen, die ihre Wangen herabliefen, den Kissenbezug nässten. Kein Schluchzen, nur diese Tränen, die liefen, ein Geschmeide aus Trauer … oder Freude?
Lacke verstummte. Virginia drückte seine Hand.
Dann ging Lacke in den Flur hinaus, und es gelang ihm mit einer Mischung aus Überredung und flehentlichem Bitten, das Personal zu veranlassen, ein zweites Bett in Virginias Zimmer zu schieben. Lacke stellte es so, dass es direkt neben ihrem stand. Anschließend löschte er das Licht, zog sich aus und legte sich unter die steife Bettdecke, suchte und fand ihre Hand.
Lange blieben sie so liegen und schwiegen. Dann kamen die Worte: »Lacke. Ich liebe dich.«
Lacke antwortete nicht, ließ die Worte im Raum hängen, ließ sie sich einkapseln und wachsen, bis sie zu einer großen roten Decke wurden, die durch das Zimmer schwebte, sich auf ihn herabsenkte und ihn die ganze Nacht wärmte.
*
4:23, Montagmorgen, Islandstorget:
Eine Reihe von Personen im Umkreis der Björnsonsgatan wird von lauten Schreien geweckt. Eine dieser Personen alarmiert die Polizei in dem Glauben, einen Säugling schreien zu hören. Als die Polizei zehn Minuten später vor Ort eintrifft, sind die Schreie verstummt. Man durchkämmt die nähere Umgebung und findet eine größere Zahl toter Ratzen. Bei einigen sind die Extremitäten
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