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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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darunter.
    Ja. Was er unter seinen Fingerspitzen gefühlt hatte, war ein Bauch gewesen. Der unter dem Druck seiner Hand nachgegeben hatte, ehe er sie wieder hochzog. Um die Gedanken von seinem Ekel abzulenken, suchten seine Augen den Fußboden ab, fanden das Küchenmesser, nahmen es wieder in die Hand, umklammerten seinen Griff.
    Was zum Teufel soll ich …
    In nüchternem Zustand wäre er nun vielleicht gegangen und hätte diesen dunklen Waldsee verlassen, der unter seiner jetzt wieder stillen, spiegelglatten Fläche alles Mögliche enthalten konnte. Zum Beispiel einen zerstückelten Körper.
    Der Bauch ist vielleicht … vielleicht ist das nur der Bauch …
    Aber der Alkohol machte ihn auch seiner eigenen Angst gegenüber rücksichtslos, weshalb er, als er die dünne Kette sah, die vom Badewannenrand in die dunkle Flüssigkeit hinabführte, die Hand ausstreckte und daran zog.
    Der Stopfen wurde herausgezogen, und es begann in den Rohren zu rieseln und zu gluckern, und an der Oberfläche bildete sich ein kleiner Strudel. Er fiel vor der Badewanne auf die Knie, leckte sich die Lippen. Nahm den herben Geschmack auf der Zunge wahr, spuckte auf den Fußboden.
    Der Pegel senkte sich langsam. Ein scharf konturierter Rand in einem dunkleren Rot wurde an seinem Höchststand sichtbar.
    Das Blut muss hier schon länger gewesen sein.
    Nach etwa einer Minute ragte die Kontur einer Nase aus der Oberfläche am Kopfende heraus. Am Fußende tauchten Zehen auf, die immer weiter herausragten, zu zwei halben Füßen wurden. Der Wirbel an der Oberfläche war nun enger, stärker geworden, lag genau zwischen den Füßen.
    Sein Blick kroch über den Kinderkörper, der Schritt für Schritt auf dem Grund der Wanne sichtbar wurde. Ein Paar Hände, auf der Brust gefaltet. Kniescheiben. Ein Gesicht. Es gurgelte schwach, als das letzte Blut ablief.
    Der Körper vor seinen Augen war dunkelrot; gefleckt und klebrig wie ein Neugeborenes. Einen Nabel hatte er, aber kein Geschlechtsorgan. Junge oder Mädchen? Es spielte keine Rolle. Als er das Gesicht mit den geschlossenen Augen studierte, erkannte er es nur zu gut.
    *
    Als Oskar zu laufen versuchte, verkrampften sich seine Beine, verweigerten ihm den Dienst.
    Während fünf leuchtend schwarzer Sekunden hatte er tatsächlich geglaubt, er würde sterben, sie würden ihn hinunterstoßen. Nun wollte es seinen Muskeln nicht gelingen, diesen Gedanken abzustreifen.
    In der Passage zwischen Schule und Turnhalle ging es nicht mehr weiter.
    Er wollte sich hinlegen, sich zum Beispiel rückwärts in diese Sträucher kippen lassen. Die Jacke und die gefütterte Hose würden dafür sorgen, dass es nicht piekste; die Zweige würden ihn einfach sanft auffangen. Aber er hatte es eilig. Der Sekundenzeiger; sein ruckender Marsch über das Zifferblatt.
    Die Schule.
    Die rötlich braune, kantige Backsteinfassade aus Steinen, die man aufeinander geschichtet hatte. In Gedanken schoss er wie ein Vogel durch die Gänge, in die Klassenzimmer. Jonny war da. Tomas. Sie saßen an ihren Pulten und grinsten höhnisch über ihn. Er senkte den Kopf, sah auf seine Stiefel hinab.
    Die Schnürsenkel waren schmutzig; ein Schuh ging auf. Eine Metallöse am Spann war nach außen gebogen worden. Er ging ein wenig schräg nach innen; an den Fersen war das Lederimitat an beiden Schuhen ausgeleiert, blankgewetzt. Dennoch würde er diese Schuhe vermutlich den ganzen Winter über tragen müssen.
    Es war kalt und nass in seiner Hose. Er hob den Kopf.
    Sie dürfen nicht gewinnen. Sie dürfen. Nicht. Gewinnen.
    Warme, pulsierende Flüssigkeit lief in seine Beine hinab. Die geraden Mörtelstriche der Backsteinfassade wurden angewinkelt, ausradiert, verschwanden, als er loslief. Seine Schritte wurden so lang, dass es um die Füße nur so klatschte und spritzte. Der Erdboden glitt unter ihm dahin, und nun hatte er im Gegenteil das Gefühl, der Erdball rolle zu schnell, er komme nicht mehr mit.
    Die Beine stolperten mit ihm davon, während die Hochhäuser, der alte Konsumladen, die Kokosmakronenfabrik vorbeigekurbelt wurden und das Tempo in Kombination mit der Macht der Gewohnheit ihn schnurstracks auf seinen Hinterhof, an Elis Hauseingang vorbei und zu seinem eigenen Haus rennen ließ.
    Fast wäre er mit einem Polizisten zusammengestoßen, der gerade in Oskars Haus gehen wollte. Der Polizist streckte die Arme aus, bremste ihn.
    »Holla! Hier hat es aber einer eilig!«
    Seine Zunge erstarrte. Der Polizist ließ ihn los, betrachtete ihn …

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