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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Salzwasser wohlfühlen. Larry liest die Abendzeitung, und Morgan wippt mit dem Bein, stampft den Takt zu irgendeiner anderen Musik als dem chinesischen Gedudel, das leise aus den versteckten Boxen kommt.
    Der Inhaber des Restaurants hatte wegen seiner satirischen Karikaturen der Machthaber während der Kulturrevolution aus China flüchten müssen. Inzwischen hat er sein Talent stattdessen an seinen Stammgästen erprobt. An den Wänden hängen zwölf liebevolle Tuschkarikaturen.
    Die Jungs. Und Virginia. Die Porträts der Jungs sind Nahaufnahmen, in denen die Unregelmäßigkeiten ihrer Physiognomien betont werden.
    Larrys zerfurchtes, nahezu ausgehöhltes Gesicht und seine riesigen, abstehenden Ohren lassen ihn aussehen wie einen lieben, aber ausgehungerten Elefanten.
    Bei Jocke hat der Künstler die groben, zusammengewachsenen Augenbrauen betont und in Dornengestrüppe verwandelt, in denen ein Vogel – möglicherweise eine Nachtigall – sitzt und singt.
    Morgan hat sich aufgrund seines Kleidungsstils Züge des späten Elvis leihen dürfen. Kräftige Koteletten und einen »Hunka-hunka-love, baby«-Ausdruck in den Augen. Sein Kopf sitzt auf einem kleinen Körper, der in Elvis-Pose eine Gitarre hält. Morgan ist von seinem Porträt weitaus angetaner, als er zugeben möchte.
    Lacke sieht vor allem betrübt aus. Seine Augen sind vergrößert worden und haben einen übertrieben leidenden Ausdruck bekommen. In seinem Mund steckt eine Zigarette, und der Rauch, der von ihr aufsteigt, hat sich über seinem Kopf zu einer Regenwolke verdichtet.
    Virginia ist die Einzige, die von Kopf bis Fuß porträtiert ist. Im Abendkleid, strahlend wie ein Stern in funkelnden Pailletten, steht sie mit ausgebreiteten Armen, umgeben von einer Schweineschar, die sie verständnislos anblickt. Auf Virginias Wunsch hat der Inhaber eine zweite, exakt gleiche Zeichnung angefertigt, die Virginia nach Hause mitnehmen konnte.
    Dann sind da noch die anderen. Ein paar, die nicht zu ihrer Clique gehören. Ein paar, die nicht mehr kommen. Ein paar, die gestorben sind.
    Charlie ist die Eingangstreppe des Mietshauses hinuntergefallen, als er nach einem Abend im Restaurant auf dem Heimweg war, und hat sich auf dem gesprenkelten Betonboden den Schädel gebrochen. Gurke litt an einer Schrumpfleber und starb an einer Blutung in der Kehle. Zwei Wochen vor seinem Tod hatte er eines Abends sein Hemd hochgezogen und ihnen gezeigt, dass ein rotes Spinnennetz aus Adern von seinem Nabel ausstrahlte. »Verdammt teure Tätowierung«, hatte er gesagt, und kurz darauf war er tot. Sie hatten sein Andenken geehrt, indem sie sein Porträt auf ihren Tisch gestellt und ihm den ganzen Abend zugeprostet hatten.
    Von Karlsson existiert kein Porträt.
    Dieser Freitagabend wird der letzte sein, den sie gemeinsam verbringen. Morgen wird einer von ihnen für immer fort sein. Ein weiteres Porträt, das an der Wand hängt, und nur noch eine Erinnerung ist. Danach wird nichts mehr so sein wie früher.
     
    Larry ließ die Zeitung sinken, legte seine Lesebrille auf den Tisch und trank einen Schluck Bier. »Ja, verdammt. Was mag in einem solchen Menschen nur vorgehen?«
    Er zeigte den anderen die Zeitung, in der über einem Bild der Vällingbyschule und einem kleineren Foto von einem Mann mittleren Alters »DIE KINDER SIND SCHOCKIERT« stand. Morgan warf einen Blick auf die Zeitung, zeigte.
    »Ist das der Mörder?«
    »Nee, das ist der Schuldirektor.«
    »Ich finde, er sieht aus wie ein Mörder. Ein typischer Mörder.«
    Jocke streckte die Hand nach der Zeitung aus.
    »Darf ich mal sehen …«
    Larry reichte ihm die Zeitung, und Jocke hielt sie sich im Abstand einer Armlänge vor die Augen, musterte das Bild.
    »Also ich finde, er sieht eher aus wie ein konservativer Politiker.«
    Morgan nickte.
    »Sag ich doch.«
    Jocke hielt die Zeitung Lacke hin, sodass er das Bild sehen konnte.
    »Was meinst du?«
    Lacke sah es sich widerwillig an.
    »Ach, ich weiß nicht. Ich finde das Ganze einfach nur verdammt deprimierend.«
    Larry hauchte seine Brillengläser an und putzte sie mit seinem Hemd.
    »Sie schnappen ihn. Mit so was kommst du nicht davon.«
    Morgan trommelte mit den Zeigefingern auf dem Tisch, streckte sich nach der Zeitung.
    »Wie hat Arsenal gespielt?«
    Larry und Morgan gingen dazu über, die derzeit schlechte Qualität des englischen Fußballs zu diskutieren. Jocke und Lacke schwiegen eine Weile, tranken ihr Bier und zündeten sich Zigaretten an. Dann fing Jocke an, über den

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