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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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ging tastend den Parkweg hinab. Schnee knirschte unter seinen Füßen. Virginia blieb stehen und betrachtete ihn. Da ging er, der Mann, den sie liebte und mit dem sie unmöglich zusammenleben konnte.
    Sie hatte es versucht.
    Vor acht Jahren, als Virginias Tochter gerade von zu Hause ausgezogen war, war Lacke bei ihr eingezogen. Virginia arbeitete damals wie heute im ICA-Supermarkt am Arvid Mörnes Väg, oberhalb des Chinaparks. Sie wohnte in einer Zweizimmerwohnung mit Küche in derselben Straße, nur drei Minuten von ihrem Arbeitsplatz entfernt.
    Während der vier Monate, die sie zusammenwohnten, war es Virginia nicht gelungen herauszufinden, was Lacke eigentlich machte. Er kannte sich mit Elektrogeräten aus, montierte einen Dimmer für die Lampe im Wohnzimmer. Er verstand sich aufs Kochen; überraschte sie mehrfach mit fantastischen Fischgerichten. Aber was machte er?
    Er saß in der Wohnung, ging spazieren, unterhielt sich mit Leuten, las eine Reihe von Büchern und Zeitungen. Das war alles. Für Virginia, die arbeiten ging, seit sie die Schule verlassen hatte, war es eine völlig unbegreifliche Art zu leben. Sie hatte ihn gefragt:
    »Also Lacke, ich will ja nichts sagen … aber was tust du eigentlich? Woher bekommst du Geld?«
    »Ich habe kein Geld.«
    »Ein bisschen Geld hast du ja schon.«
    »Wir sind hier in Schweden. Trag einen Stuhl hinaus, und stell ihn auf den Bürgersteig, setz dich auf den Stuhl, und warte. Wenn du lange genug wartest, kommt jemand vorbei und gibt dir Geld. Oder kümmert sich sonstwie um dich.«
    »Siehst du mich genauso?«
    »Virginia. Wenn du sagst ›Lacke, du musst gehen‹. Dann gehe ich.«
    Es hatte noch einen Monat gedauert, bis sie es sagte. Daraufhin hatte er seine Kleider in eine Reisetasche gestopft, seine Bücher in eine zweite. Und war gegangen. Danach hatte sie ihn ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Während dieser Zeit hatte sie angefangen, mehr und alleine zu trinken.
    Als sie Lacke wiedersah, hatte er sich verändert, war trauriger. Während des halben Jahres hatte er bei seinem Vater gewohnt, der in einem Haus irgendwo in Südschweden an Krebs dahinsiechte. Als der Vater gestorben war, hatten Lacke und seine Schwester das Haus geerbt, es verkauft und sich das Geld geteilt. Lackes Anteil hatte ausgereicht, um eine Wohnung in Blackeberg zu kaufen, und er war zurückgekommen, um sich hier niederzulassen.
    Während der folgenden Jahre trafen sie sich immer häufiger beim Chinesen, wohin Virginia jeden zweiten Abend ging. Manchmal gingen sie zusammen nach Hause und liebten sich ruhig. Sie waren stillschweigend übereingekommen, dass Lacke fort war, wenn Virginia am nächsten Tag von der Arbeit kam. Sie waren auf der Basis maximaler Freiwilligkeit ein Paar – manchmal vergingen zwei, drei Monate, ohne dass sie sich das Bett geteilt hätten, und beiden passte hervorragend, wie es jetzt war.
    Sie kamen am ICA-Supermarkt mit seinen Reklameplakaten für billiges Hackfleisch und dem Slogan »Iss, trink und sei froh« vorbei. Lacke blieb stehen, wartete auf sie. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, bot er ihr seinen Arm an, und Virginia hakte sich bei ihm ein. Lacke nickte zu dem Geschäft.
    »Was macht die Arbeit?«
    »Nichts Besonderes.« Virginia blieb stehen, zeigte. »Das da habe ich beschriftet.«
    Ein Schild, auf dem »PIZZATOMATEN. DREI DOSEN 5,–« geschrieben stand.
    »Schön.«
    »Findest du?«
    »Ja. Man bekommt wahnsinnige Lust auf Pizzatomaten.«
    Sie versetzte ihm vorsichtig einen Stoß in die Seite, spürte seine Rippen unter ihrem Ellbogen. »Weiß du überhaupt noch, wie Essen schmeckt?«
    »Du brauchst dir keine …«
    »Nein, aber ich tu’s trotzdem.«
    *
    »Eeeeli … Eeeeliii …«
    Die Stimme aus dem Fernsehapparat klang vertraut. Eli versuchte sich von ihr zurückzuziehen, aber der Körper wollte nicht gehorchen. Nur die Hände glitten in rasendem Tempo über den Fußboden und suchten etwas, an dem sie sich festhalten konnten, fanden ein Kabel und klammerten sich daran fest, als wäre es ein Rettungsseil aus dem Tunnel, an dessen Ende der Fernsehapparat stand und zu Eli sprach.
    »Eli … wo bist du?«
    Der Kopf war zu schwer, um ihn vom Boden zu heben; Eli war einzig fähig, zum Bildschirm aufzublicken, und natürlich war es … ER.
     
    Auf den Schultern seines Seidenmantels lagen helle Strähnen der blonden Perücke aus Menschenhaar, die das feminine Gesicht noch kleiner aussehen ließ, als es ohnehin schon war. Die schmalen Lippen waren

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