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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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zusammengepresst, zu einem Lippenstiftlächeln hochgezogen, leuchtend wie eine Schnittwunde in dem bleichgepuderten Gesicht.
    Eli gelang es, den Kopf ein wenig zu heben und sein ganzes Gesicht zu sehen. Blaue, kindlich große Augen, und über den Augen … stoßweise wurde die Luft aus Elis Lunge gepresst, der Kopf fiel willenlos zu Boden, das Nasenbein knirschte. Nur die Ruhe. Auf dem Kopf trug Er einen Cowboyhut.
    »Eeeliii …«
    Andere Stimmen. Kinderstimmen. Eli hob von Neuem, zitternd wie ein Säugling, den Kopf. Tropfen kranken Bluts liefen aus Elis Nase in den Mund hinab. Der Mann hatte seine Arme in einer willkommen heißenden Geste ausgebreitet, die das rote Futter seines Mantels entblößte. Das Futter brodelte, war ein einziges Gewimmel, bestand aus Lippen, hunderten von Kinderlippen, die sich in Grimassen wanden, eine Geschichte wisperten, Elis Geschichte.
    »Eli … komm heim …«
    Eli schluchzte, schloss die Augen, wartete auf den eisigen Griff im Nacken, aber es passierte nichts. Eli öffnete wieder die Augen. Das Bild hatte sich verändert. Nun zeigte es eine lange Reihe von Kindern in ärmlicher Kleidung, die durch eine verschneite Einöde wanderten, auf ein Schloss aus Eis am Horizont zuwankten.
    Das geschieht nicht.
    Eli spuckte Blut auf den Fernsehapparat. Rote Flecken durchlöcherten den weißen Schnee, liefen über das Eisschloss.
    Das existiert nicht.
    Eli zog ruckartig an der Rettungsleine, versuchte sich aus dem Tunnel zu ziehen. Ein Klacken ertönte, als ein Stecker aus der Dose gezogen wurde, auf den Fußboden plumpste. Eli bettete den Kopf auf die Hände, verschwand in der Tiefe eines dunkelroten Wirbels.
    *
    Virginia bereitete auf die Schnelle einen Eintopf aus Zwiebeln und Pizzatomaten zu, während Lacke lange duschte. Als der Eintopf fertig war, ging sie zu ihm ins Badezimmer. Er saß mit hängendem Kopf in der Badewanne, der Duschkopf ruhte schlaff auf seinem Nacken. Die Rückenwirbel waren eine Kette aus Tischtennisbällen unter seiner Haut.
    »Lacke? Das Essen ist fertig.«
    »Gut. Gut. Bin ich lange hier gewesen?«
    »Nein, nein. Aber das Wasserwerk hat gerade angerufen. Sie sagen, das Grundwasser geht zur Neige.«
    »Was?«
    »Komm jetzt.«
    Sie nahm ihren Bademantel vom Haken, hielt ihn Lacke hin. Er richtete sich in der Badewanne auf, indem er sich mit beiden Händen auf den Rändern abdrückte. Virginia erschrak, als sie seinen ausgemergelten Körper sah. Lacke bemerkte es und sagte: »Darauf entstieg er dem Bade, der Göttergleiche, herrlich zu schauen.«
    Anschließend aßen sie und teilten sich eine Flasche Wein. Lacke bekam nicht viel herunter, aß aber immerhin etwas. Sie teilten sich eine zweite Flasche im Wohnzimmer, gingen danach ins Bett. Eine Zeit lang lagen sie Seite an Seite, schauten sich in die Augen.
    »Ich habe die Pille abgesetzt.«
    »Aha. Wir brauchen nicht …«
    »Nein, aber ich brauche sie nicht mehr. Keine Menstruation.«
    Lacke nickte, dachte nach, strich ihr über die Wange.
    »Bist du traurig?«
    Virginia lächelte.
    »Du bist wirklich der einzige Mann, den ich kenne, der auf die Idee kommen würde, mich das zu fragen. Ja, ein bisschen. Es ist … na ja, es ist eben das, was mich zur Frau gemacht hat. Und jetzt gilt das eben nicht mehr.«
    »Mhm. Für mich reicht’s allemal.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja.«
    »Na, dann komm.«
    Das tat er.
    *
    Gunnar Holmberg ließ die Füße durch den Schnee schleifen, um keine Fußspuren zu hinterlassen, durch die er der Spurensicherung die Arbeit erschweren würde, blieb stehen und betrachtete die Fußspuren, die von dem Haus wegführten. Das Licht des Feuers ließ den Schnee gelbrot leuchten, und die Hitzeentwicklung war so intensiv, dass sich an seinem Haaransatz Schweißperlen bildeten.
    Holmberg hatte sich unzählige spitze Bemerkungen wegen seines möglicherweise naiven Glaubens an das grundsätzlich Gute in Kindern und Jugendlichen anhören müssen. Diesen Glauben versuchte er durch seine eifrigen Schulbesuche und seine vielen und langen Gespräche mit Jugendlichen, die in falsche Gesellschaft geraten waren, lebendig zu erhalten, und dieser Glaube war es, der ihn nun so verletzt darauf reagieren ließ, was er vor seinen Füßen hatte.
    Die Spuren im Schnee stammten von kleinen Schuhen. Stammten nicht einmal von jemandem, den man als Jugendlichen bezeichnen konnte, nein, es waren eindeutig Spuren von Kinderschuhen. Kleine, zierliche Abdrücke im Abstand einer ansehnlichen Schrittlänge. Hier war jemand gelaufen,

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