Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
Vom Netzwerk:
Tommys Verhältnis zu dem Grab sich mit der Zeit verändert. Heute ging er ab und an alleine hierher, saß eine Weile an dem Grabstein und strich mit den Fingern über die eingemeißelten Buchstaben, die den Namen seines Vaters bildeten. Deshalb kam er. Die Kiste in der Erde ging ihn nichts an, der Name schon.
    Der verkümmerte Mensch in dem Krankenhausbett, die Asche in der Kiste, nichts davon war Papa, aber der Name bezeichnete den Menschen in seiner Erinnerung, und deshalb hockte er hier manchmal und strich mit dem Zeigefinger über die Vertiefungen im Stein, die »MARTIN SAMUELSSON« ergaben.
    »Oh, wie schön«, sagte Mama.
    Tommy ließ den Blick über den Friedhof schweifen.
    Überall brannten kleine Kerzen; eine Stadt aus dem Flugzeug gesehen. Vereinzelt bewegten sich dunkle Gestalten zwischen den Grabsteinen. Mama schlug die Richtung zu Papas Grab ein, die Kerze baumelnd in der Hand. Tommy sah ihrem schmalen Rücken hinterher und wurde plötzlich traurig. Nicht seinetwegen, nicht Mamas wegen, nein; wegen allem. Wegen all der Menschen, die zwischen den flackernden Kerzen im Schnee umhergingen, selber nur Schatten waren, die an Steinen standen, Steine betrachteten, Steine berührten. Das war alles so … dumm.
    Tot ist tot. Fort.
    Dennoch trat Tommy zu seiner Mutter, ging vor Papas Grab in die Hocke, während sie die Kerze anzündete. Solange Mama dabei war, wollte er die Buchstaben nicht berühren.
    So hockten sie eine Weile und betrachteten, wie die schwache Flamme die Schattierungen im Marmor kriechen und sich bewegen ließ. Tommy empfand nichts, war höchstens peinlich berührt. Weil er bei diesem Theater mitmachte. Nach kurzer Zeit richtete er sich auf und machte sich auf den Heimweg.
    Mama folgte ihm. Ein bisschen zu schnell, wie er fand. Sie durfte sich seinethalben ruhig die Augen aus dem Kopf heulen, die ganze Nacht hier draußen hocken bleiben. Sie holte ihn ein, schob behutsam ihren Arm unter seinen. Er ließ es geschehen. Sie gingen Seite an Seite und schauten auf den Råckstasee hinaus, auf dem sich allmählich eine Eisdecke bildete. Wenn es weiter so kalt bliebe, würde man dort in ein paar Tagen Schlittschuh laufen können.
    Die ganze Zeit mahlte ein Gedanke in Tommys Kopf wie ein hartnäckiges Gitarrenriff.
    Tot ist tot. Tot ist tot. Tot ist tot.
    Mama schauderte, presste sich an ihn.
    »Es ist so grauenhaft.«
    »Findest du?«
    »Ja. Staffan hat mir etwas ganz Schreckliches erzählt.«
    Staffan. Konnte sie es nicht einmal jetzt lassen, von ihm zu …
    »Aha.«
    »Hast du von dem Haus in Ängby gehört, das abgebrannt ist? Die Frau, die …«
    »Ja.«
    »Staffan hat erzählt, dass sie obduziert worden ist. Ich finde es so grauenvoll, dass sie das tun müssen.«
    »Ja, ja. Sicher.«
    Eine Ente watschelte auf der spröden Eisdecke zum offenen Wasser vor dem Abwasserrohr am Seeufer. Die kleinen Fische, die man dort im Sommer fangen konnte, rochen nach Kanal.
    »Was ist das eigentlich für ein Abwasserrohr?«, erkundigte sich Tommy. »Kommt das vom Krematorium?«
    »Keine Ahnung. Willst du es nicht hören? Findest du es unheimlich?«
    »Nein, nein.«
    Und daraufhin erzählte sie, während sie durch den Wald nach Hause gingen. Nach einer Weile war Tommys Interesse geweckt, und er begann, Fragen zu stellen, die Mama nicht beantworten konnte; sie wusste nur, was Staffan ihr erzählt hatte. Ja, Tommy fragte so viel, war so interessiert, dass Yvonne bereute, überhaupt davon angefangen zu haben.
     
    Später an diesem Abend saß Tommy auf einer Kiste im Schutzraum, drehte die kleine Skulptur eines Pistolenschützen in den Händen. Er deponierte sie wie eine Trophäe auf den drei Kartons voller Kassettendecks. Die Krönung seines Werks.
    Einem Polizisten geklaut!
    Sorgfältig schloss er den Schutzraum mit Kette und Vorhängeschloss ab, deponierte den Schlüssel in seinem Versteck, setzte sich und dachte darüber nach, was Mama erzählt hatte. Nach einer Weile hörte er vorsichtige Schritte, die sich dem Kellerverschlag näherten. Eine Stimme, die flüsterte: »Tommy …?«
    Er stand aus dem Sessel auf, ging zur Tür und öffnete sie schnell. Oskar stand davor und wirkte nervös, hielt ihm einen Geldschein hin.
    »Hier. Dein Geld.«
    Tommy nahm den Fünfziger, schob ihn in seine Tasche, lächelte Oskar an.
    »Willst du hier etwa Stammgast werden? Komm rein.«
    »Nein, ich muss …«
    »Ich sag doch, komm rein. Ich möchte dich was fragen.«
    Oskar setzte sich mit gefalteten Händen auf die Couch. Tommy

Weitere Kostenlose Bücher